13. Dezember 2016

Eine Formel fürs Gefühl

Elisionen (4)

 

Es gab einmal eine Zeit – es war wohl eine im Laufe des 19. Jahrhunderts – da ist, dem neuen Geist der Naturwissenschaften folgend, allem, was nicht auf ein positives Datum bezogen werden konnte, der Geist ausgetrieben worden. Was übrig blieb, müssen Buchstaben gewesen sein, die sich lesen ließen. Ziel war, ein Aufschreiben zu ermöglichen, das die Welt als Text oder als Formel lieferte. Dieses Ziel lässt immer noch auf sich warten, oder ist es nicht schon längst zu Fall gebracht? Es liegen mehr Fakten als Dinge vor, denn die Möglichkeiten, Zusammenhänge für Fakten in Bezug auf "Dinge" herzustellen, sind grenzenlos. Zusammenhänge und Fakten liegen nicht hilflos auf der Straße rum, darauf wartend, dass man sie aufstellt und sinnfällig macht. Und es ist die Fantasie der Wissenschaften, aus Sachen und Dingen angeblich wertfreie, neutrale Daten zu generieren. In wie vielen Welten leben wir?

Etwas anderes ist es zu behaupten, Fakten spielten keine Rolle mehr: postfaktisch. Ein plumpes Wort, das eine erschreckende Leere aus sich entlässt. Man sagt, Gefühle träten anstelle von Fakten. Man sagt auch, man wolle einer bestimmten Spezies von Hominiden aufs Maul schauen. Was sich dabei zeigte, könne sich sehen lassen. Kann man Gefühle sehen? Was wären die Waffenträger der Gefühle? Ihre Rechtmäßigkeit? Ihre Authentizität?

Wenn es eine Disziplin gibt, die von sich behaupten könnte, mit dem Postfaktischen umgehen zu können, so ist es die Psychoanalyse. Vielleicht auch deshalb, weil sie selbst mangels Fakten auf die Welt kam. Freud gab den psycho-physischen Parallelismus auf. Was entstand, war ein Gebilde, was dem "Unerkannten" aufsaß. Und was war das anderes als der Ma(h)lstrom des Unbewussten. Für Freud wie später für Lacan war das, was jemand in der analytischen Sitzung artikulierte, Abfall. Man kann es auch Material nennen, mit dem sich arbeiten lässt. Aber man ist weit von der Naturalienwirtschaft. Das Material ist schadhaft. Und es stört mehr oder weniger massiv. Es geht ja nicht nur um ein paar Signifikanten, die man anders arrangiert. Aber um was geht es dann?

Im Whirlpool des Postfaktischen ist offenkundig etwas ausgemerzt. Aber es sind nicht die Fakten oder die Tatsachen. Es ist das Individuum, das auf dem vermeintlichen Weg zu sich selbst zu einem Dividuum wird, also zu etwas, das sich teilen lässt. Die Teilung wird nicht veranlasst von irgendwelchen blödsinnigen Fakten oder Objekten, die das Subjekt, vormals Individuum, bedrohen. Die Teilung, die bis zur Auslöschung gehen kann, geht von einer Einbildung aus. Die Einbildung kennt viele Kleider. Das Kleid kann das des guten Nachbarn sein, manchmal ist es diaphan oder es blendet. Die Ein-Bildung ist ein von außen wirkender Prozess, bei dem es dem Subjekt die Sprache verschlägt. Was folgt, ist eine Neusortierung und Neuausrichtung. Aber im Moment der Faszination der Einbildung liegt der "Schatz der Signifikanten" wie nach einem K. o. am Boden. Für dieses eigenartige Treffen hat Jacques Lacan eine Formel parat: ($ <> a). Spaltungen sind für den Psychoanalytiker Lacan etwas Normales. Das Subjekt sei "nicht eines", so eine Grundannahme. Schon beim Sprechen stellen wir etwas aus uns heraus, was für uns steht. Sprechen teilt jemanden ein und schließt vieles aus, was zumeist unbewusst ist. Dafür steht die Sigle des durchgestrichenen S. Beim Sprechen zeigt sich aber bisweilen etwas, was ansonsten verschlossen ist, wenn man sich z.B. einen Lapsus leistet. Das grafische Zeichen rechts von $ wird im Lacanismus als "Raute" übersetzt und heißt aus dem Französischen übertragen so viel wie 'Stempel' oder 'Patrize'. Lacan selbst liest dieses Zeichen in dem Moment, wo er es einführt, als "in Gegenwart von" oder etwas stärker als "konfrontiert mit". Das, womit das (durchgestrichene) Subjekt konfrontiert ist, nennt Lacan schlicht a. Obwohl Lacan diesen Buchstaben später auch "Objekt klein a" nennen wird, ist dieses seltsame Gebilde kein Objekt im klassischen Sinn. Es hat weniger eine ontologische Grundierung, als dass es funktioniert. Es ist "Objekt des Begehrens". Und das völlig undurchschaut. Weil dieses Objekt meist als Bild wirkt. Bei aller erschöpfenden Bildbeschreibung würde man niemals herausbekommen, warum ein "Bild" auf diese Weise auf jemanden wirkt und ganz anders auf jemand anderen. Der obige Algorithmus liefert Lacan "la formule constante du fantasme dans l'inconscient", also "die konstante Formel des Fantasmas [der Einbildung, des Wahngebildes] im Unbewussten". Die Formel ist also eine Einsetzungsinstanz für alles mögliche. Weder steht das durchgestrichene S für ein bestimmtes, im sozialen Raum beschreibbares Subjekt, noch gibt die "Raute" eine bestimmte Wirkweise an, noch lässt sich klein a durch irgendein bestimmtes Gebilde fixieren. Die Einheit der Relata liegt bloß in der formalen Struktur disparater Momente.

Die postfaktische Pointe des Algorithmus liegt darin, dass in dem Bereich, mit dem man es hier zu tun hat und den man vor gar nicht langer Zeit noch Ideologie genannt hat, es keine Phase geben kann, die man als "faktische" bezeichnen könnte, da der besagte Einzugsbereich Ideologie keine Fakten, sondern bloß subjektlose Verschlingungen und Absorptionen kennt. Kandidat für ein nicht durchgestrichenes Subjekt wäre möglicherweise das der Aufklärung, das durch Vernunft geprägte. Lacan hat allerdings auch gezeigt, dass der radikalste Leser von Kant der Marquis de Sade war, der den kategorischen Imperatif ganz wörtlich nahm, um damit auf der anderen Seite des Guten zu operieren. Das Kommunikationsdesign, das vom Begehren durchkreuzt wird, lässt sich wohl gar nicht aufschreiben. Auch die Formel Lacans ist keine Zauberformel, mit der sich irgendetwas erklären ließe. Die Formel mag allerdings dazu anregen, über die Geschehnisse in den Partialbereichen, die die Formel bezeichnet, nachzudenken. Bloßes Insistieren auf "Fakten, Fakten, Fakten" oder die Heiligsprechung von "Gefühlen", die dadurch immun werden, stellen ihrerseits Teile der Ideologie dar, die sich vermutlich nicht viel anders bekämpfen lassen als in Form der Rittergestalt, die Cervantes unsterblich gemacht hat. Zu entwickeln wäre also so etwas wie eine politische Homöopathie.

Dieter Wenk (12-16)

 

Literatur:

Jacques Lacan, Le Séminaire, livre VI, Le désir et son interprétation, Paris 2013 (Éditions de La Martinière), Le Champ Freudien