27. November 2016

"Sollers werden"

Philippe Sollers, 1973

Zum Achtzigsten

 

Von den Jahren 1914 bis 1962 lebte Frankreich gerade mal etwas über 20 Jahre im "Frieden". Dazwischen tobte der Krieg, erst der "Grande Guerre", dann der Zweite Weltkrieg, ab 1946 bis 1954 der Indochinakrieg, schließlich von 1954 bis 1962 der Algerienkrieg, der zur Unabhängigkeit Algeriens führte und die finale Depotenzierung Frankreichs als Kolonialmacht mit sich brachte. Für die um 1935 Geborenen war der Algerienkrieg eine echte Bedrohung. Ob man wollte oder nicht, man war in erster Linie Franzose, erst dann Individuum. Auch Künstler und Schriftsteller wurden eingezogen und für den Krieg ausgebildet. Manche landeten im Knast, weil sie die "falschen" Sachen lasen und verbreiteten (Pierre Guyotat), manche versuchten, durch Simulation von Krankheiten dem Kriegsdienst zu entkommen. Das gelang etwa Philippe Sollers, der 1959 durch die Publikation eines "viel versprechenden" kleinen Romans (Une curieuse solitude) bereits Aufmerksamkeit einiger literarischer Platzhirsche auf sich gezogen hatte. Man nahm ihm seine "Schizophrenie" ab. Allerdings führte die Ablehnung des Kriegs bzw. der Unwille, an ihm teilzuhaben, nicht dazu, dass Sollers zu Hause, also in Frankreich, die antibellizistische Propaganda anwarf. Er wurde überhaupt erst richtig zu dem, was der Name versprach: ganz aus Kunst.

1936 in Bordeaux als Philippe Joyaux geboren, stellt der auf das Lateinische zurückgehende Name *Sollers ein ganzes Schriftstellerkonzept dar. Ein Leben aus der Kunst (im weitesten Sinn), mit der Kunst, in der Kunst. Und zwar gegen das, was dann in bestimmten Kreisen die "Gesellschaft des Spektakels" hieß. Aber schon Sollers' zweiter Roman, Le parc, ging über den Erstling hinaus und vergrämte die frühen Unterstützer. "Der Park" war unzweideutig eine Geburt aus der Filiale des nouveau roman. Auch die von Sollers und einigen Kollegen 1960 gegründete Zeitschrift Tel quel gab sich eine Zeitlang als Weggefährtin des u.a. von Alain Robbe-Grillet initiierten neuen Schreibens. Mitte der 60er Jahre war auch dieses Novum nicht mehr ganz so neu, Sollers und sein Organ drehten sich ganz in die Materialtät des Schreibens ein und begründeten die sogenannte "textuelle Literatur", die sich ganz von der klassischen Mimesis-Lehre der Literatur entfernte. Diese neueste Literatur gebar aus sich selbst heraus die Wirklichkeit oder Wirklichkeiten. Anders gesagt: Eine unlesbare Literatur entstandt. An ihr arbeiteten sich zukünftige Textwelt-Heroen wie Jacques Derrida ab.

Der Mai '68 ging nicht spurlos an Sollers und seiner Equipe vorbei. Man begann für China und Mao zu schwärmen, 1974 reiste man in das Land der viel versprechenden "Kulturrevolution". Doch auch das bleibt Etappe. Der literarische Primärkontakt wird nie aufgegeben: Mallarmé, Bataille, Joyce, Céline und viele andere. Sollers readaptiert verschiedene Muster, die Aufgabe von Interpunktion (Joyce), die massive Anbringung von Auslassungszeichen (Céline), das postmoderne Konversieren von literarischen Plaketten. Irgendwann ist nicht mehr zu übersehen, dass ein neues Spiel gespielt wird. Anfang der 80er Jahre wird aus Tel quel die Zeitschrift L'Infini, der avantgardistische Schreibmodus zuletzt von Paradis (begonnen als work in progress, als Buch veröffentlicht 1981), weicht einem scheinbar wiedergefundenen realistischen Verfahren, und die katholische Kirche hält nunmehr Einzug in das Pandämonium Sollers'scher Prägung. Die Prämisse: der katholische Faktor als Prämisse der Ermöglichung ästhetischer Welten. Konsequent schließt auch diese neuen Phase an das Verständnis von Literatur als Inter-Regnum an. Mit dem mehr als unterschwelligen Angebot an den Leser: Wer Ohren hat zu hören, kann hier Dinge erfahren, die sonst Tabu sind. Sollers baut an nichts Weniger als an einer parallelen Wahrheitswelt. Natürlich ist die wirkliche Wirklichkeit verdorben, das ist die Lehre der Erbsünde. In der echten Literatur und Kunst inkarnieren sich Lebenswelten, die von der primären Lebenswelt nicht so sehr abgekoppelt ist als dass sie mit dieser spielen. Ästhetische Erlösungsfantasien, die strikt an eine Person angebunden sind. Die Lust am Text im Text. Jedes Jahr erscheint so eine neue Version der affirmierenden Selbst-Konstruktion auf der Basis ressentiment-loser Negation. Erlösung ist nicht etwas, auf das man hinhofft, sie ist Voraussetzung, sie gehört zur Spielanweisung dessen, der sein eigenes Spiel spielt im Wissen, dass in diesem Spiel viele andere Spiele mitspielen. An diesem paradoxen Punkt greift der autonome Spieler die Spielmarke auf.

Der *Sollers als Spielmarke gibt alle Freiheiten, aber der Einastz ist hoch. Der *Sollers wird nie in der Lage sein, den "Ernst der Lage" zu beschreiben. Denn nie hört das Bandenspiel auf. Über die Bande – mit der ganzen Bagage – ist immer. Ein krasses Beispiel für die Einklammerung der Text- und Lebenswelt durch Selbstapotheose gibt Philippe Sollers 2009 anlässlich eines Auftritts am Collège des Bernardins, wo er über Dante spricht und einen Text aus dem Jahr 1981 liest ("Gloria"). In diesem kurzen Text zitiert Sollers ein berühmtes Wort von Sigmund Freud: "Wo es war, soll ich werden", das er zunächst in der französischen Übersetzung gibt. Dann liefert er das Original, mit einem signifikanten Eingriff: Der Hörer hört (denn der Publikation des Auftritts Sollers' liegt eine CD bei, die den Auftritt dokumentiert) Folgendes: "Wo es war, Sollers werden". Offensichtlich hatten die Bernhardiner nicht die feinen Ohren, den Unterschied zu bemerken: kein Lachen, kein Protest oder was auch immer. Aber auch Sollers sieht man nichts an, nichts Süffisantes. Ein Freudscher Versprecher? Oder doch Absicht? Und ganz cool bleiben? Wahrscheinlich darf man sich im Paradies alles erlauben. Oder man steht sowieso ganz oben, denn wie sagte Philippe Sollers ganz richtig, als er gefragt wurde, ob es richtig sei, dass er im literarischen Milieu Gott sei: "Eh bien, mes enfants, oui, je suis dieu!" Heute, am 28.11.2016, feiert dieses Kunstwerk seinen 80. Geburtstag.

Dieter Wenk (11-16)