16. September 2016

Sprachgewalt

Elisionen

 

Der Buchstabe B im deutschen Wort Ball hat phonematischen Wert, insofern er es von anderen Wörtern (Fall, Wall) zu unterscheiden erlaubt. Der Buchstabe B wird durch andere Buchstaben ersetzt. Er kann auch ganz wegfallen, dann erhält man das Wort All. Nicht immer führen Substitutionen oder Elisionen zu sinnvollen Ergebnissen. Die Buchstabenkombination Yall ergibt kein deutsches Wort, bei ärz würden wir vermuten, dass es falsch geschrieben (Erz) oder unvollkommen notiert ist (März). Gleichwohl lassen sich solche sprachlichen Läsionen gut verwerten. Sie erzeugen zum Beispiel komische Effekte (durch die Abweichung von der Orthographie), besitzen entlarvendes Potential oder kokettieren mit Voreinstellungen des Lesers. Nicht immer ist Absicht im Spiel. Die korrekte Artikulation dessen, was man früher den deutschen Gruß genannt hat, setzte u.a. voraus, dass einem das h zügig durch den Rachen lief. Wir wissen, dass mancher Franzose nur sehr unvollkommen den auch von ihm erwarteten Lautbestand zu produzieren in der Lage war. Zur Entschuldigung ließ sich immer das nationalfranzösische Lautschema in Anschlag bringen. Wie viele französische Philosophieklassen sind mit *egel, *usserl und *eidegger groß geworden. Der übernationale Lautunsinn ist also gewissermaßen sanktioniert. Und aus diesem Unsinn ergeben sich wiederum Distinktionsmöglichkeiten ("Peking" war vorgestern). Der Witz der Sprache und Aussprache zeigt sich vielleicht noch reiner, wenn keine Absicht unterstellt ist. Wenn der Zuhörer überrascht wird und eine peripher erscheinende Elision zu massiven Ernüchterungskompressionen führt. In den zwölf Jahren des 1000-jährigen Reichs hat nicht jeder an Volk und Führer geglaubt. Aber schon sehr viele. Und plötzlich ergibt sich aus einer unvorhergesehenen Inszenierung der Dinge etwas anderes.

Heinrich Böll weiß davon in seinem Roman Haus ohne Hüter zu erzählen. Es ist ein Nachkriegsroman, 1954 erschienen. Die Echokammern zur Erfassung des Grauens sind noch nicht wirklich hochgezogen. Um so unabweisbarer sind die Effekte, die sich dem didaktischen Syndrom entziehen. Einmal erklungen, ist die akustische Maske angegriffen. Und das neue Klangerzeugnis klingt im Kopf weiter. So ergeht es Nella, einer der Witwen des Romans. Da ist der systemische Pfarrer, der vor ihrer Tür steht und die Todesbotschaft ihres in Russland gefallenen Manns nun ganz offiziell überbringen will. Aber Nella mag nicht öffnen: "Sie mochte seine Stimme nicht hören: falsches Pathos, eingehämmerte Seminar-Rhetorik, die bei bestimmten Worten die Stimme bestimmte Schwingungen vollziehen ließ. Wellenbewegungen falscher Gefühle: seismisch herausspürbare Lüge, effektvoll eingeflochtenes Rollen – und der Donnerschlag in der Stimme, wenn das Wort Hölle fällig war. Wozu das Geschrei, wozu so viel Lärm – und über Hunderttausende rollte das falsche Pathos hin, mit dem der Rhetoriklehrer im Seminar zwei Priestergenerationen ausgestattet hatte." Böll präsentiert dem Leser die ernüchtert erkenntnismäßige Einschätzung einer Frau, die an nichts mehr glaubt, Liebe eingeschlossen. Die Ernüchterung hatte einen Ort, nämlich die Kirche, in der zwei Redeordnungen aufeinander stießen und Unordnung stifteten. Der systemische Pfarrer unterwegs auf zu dominant heidnisch-irdischem Terrain; die nicht eingeplante akustische Dysfunktion als Funktion architektonischer Größenordnung: "Rolle weiterhin dein R in Vaterland und Führer – schwinge das L in Volk – und lausche dem nichtigen Echo, das dein falsches Pathos aus der Taufkapelle zurückwirft – ührer – olk und – aterland." Diese klangräumlich induzierten Verknappungen gehen nunmehr immer hin und her. Als Wortkrüppel erhellen sie die Nacht, verdunkeln aber auch ein weibliches Gefühlsleben: "'... ich bin zur Witwe gemacht für – aterland – olk – und – ührer –' und sie ahmte das Echo nach, wie es aus der Taufkapelle in die Kirche zurückgekommen war, Lüge enthaltend und Drohung..." Oder auch: "'ich heirate nicht mehr, lieber wilde Witwe spielen als die lächelnde Ehefrau, Keimzelle des – aterlands, des – olkes.'" Oder wieder: "Vorzeitliches Gemurmel klang ihr wieder im Ohr – ührer – olk und – aterland: geköpfte Lüge, wie ein Fluch über sie hingesprochen. Tausend Jahre schien es zurückzuliegen. Längst vermoderte Geschlechter hatten solchen Götzen geopfert. Verbrannt, zertrampelt, vergast, abgeknallt – für sechs unvollkommene Silben." Oder noch einmal: " Das Echo erklang in ihrem Ohr, entlarvt durch die Akustik der Taufkapelle, die Anfangskonsonanten für sich behielt, ein F und zwei V als Tribut für die Lüge einbehielt: geköpfte Vokabeln nur gab sie zurück." So lange dieses Leben währt, wird das Thema des lädierten Ohrwurms ertönen, es "Leitmotivik" zu nennen hilft nicht weiter.

Die deutsche Nachkriegsgesellschaft reflektiert in den Romanen und Erzählungen Heinrich Bölls über die Kriegs- und Vorkriegszeit. Böll geht dahin, wo es weh tut. Das ist das Moderne seiner traditionell realistischen Prosa. Auch andere Autoren gehen dahin, wo es weh tut, aber sie tun es auf eine andere Art. Gewalt, besonders sexuelle, war schon immer Thema bei Alain Robbe-Grillet, aber es stellt sich mit zunehmender Romanproduktion immer mehr aus. Sexualität und Pornografie sind natürlich auch beliebte Sujets in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, Sade und Bataille à la mode. Von seiner "sexuellen Perversion" spricht Robbe-Grillet ganz offen in dem ersten Teil seiner Autobiografie mit dem Titel Le miroir qui revient aus dem Jahr 1984. Elisionstechnisch relevant ist ein Fragment eines "Liebesdiskurses" aus Robbe-Grillets 1970 erschienenem Roman Projet pour une révolution à New York. Ein junges Mädchen, Laura, hat gerade ein anderes junges Mädchen verabschiedet und stellt das Tonbandgerät an, ohne es an den Anfang zurückgespult zu haben: "...liches rotes Haar, das seine Pracht direkt vor mir entfaltet..." Im französischen Original heißt es: "...tueuse chevelure rousse..." In dem kurzen Abschnitt, der folgt, wird ein junges Mädchen, Joan, beschrieben, ihr zu kurzer Rock aus feiner Seide, der sich zu bewegen scheint und mit ihm die Welt die er abbildet, eine Unterwasserwelt mit Fischen und Wasserpflanzen, die auswachsen und sich einstülpen, kurz, die Sprache, die Robbe-Grillet einsetzt, ist unübersehbar sexualisiert, zum Beispiel heißt es im Original: "...excroissances et invaginations..." Laura scheint am Ende ein Detail nicht besonders zu gefallen, aber anstatt das Tonbandgerät auszuschalten, schlägt sie in einem sonderbarerweise in unmittelbarer Nähe sich befindenden dicken Lexikon ein Wort nach, und zwar "ulve". Dreizehn Zeilen nach dem ein Wort anschneidenden Beginn des Tonbandvortrags ("...tueuse...") taucht also dieses Wort auf und scheint wichtig zu sein, aber ist es überhaupt ein Wort, was macht der Leser damit, ergänzt er unmittelbar, absichtslos "vulve"? Das eher selten gebrauchte Wort "ulve" bezeichnet im Französischen eine "Gattung niederer Wasserpflanzen (Ulva)" (Sachs-Villatte). Laura überlegt, dass ein in großen Tiefen lebender Fisch nicht, wie in dem Tonbandvortrag beschrieben, "in diesem Salat sich verstecken könne. Dann spricht sie halblaut, aber klar und deutlich: 'innliche ulva', und, einige Sekunden später: 'verschlungene Kathedrale'." (Im Französischen: "ulve oluptueuse" und "cathédrale engloutie"). Der Leser mag entscheiden, welches Dual der jungen Laura eigenartiger ist. Anders jedenfalls als Böll verzichtet Robbe-Grillet auf die Präsentation der "korrekten" Vorlage (vulve voluptueuse). Es gibt sie vielleicht auch nicht, warum sollte man nicht auch sagen: ulve voluptueuse? Der Autor schiebt also alle "Schuld" von sich. Es ist der Leser, der sich seinen Text macht. Das ist, nach Flaubert, die Lehre der Leere. Auch die Impressionisten wussten Tableaus zu komponieren aufgrund der Ergänzungsfähigkeit von Bildern. Musikalisch scheinbar in der Luft Schwebendes wird von uns ergänzt, ob wir wollen oder nicht. Es ließe sich von einer syndromatischen Struktur von Bildern, Musik und eben auch von Sprache sprechen, natürlich nicht immer. Während Böll diese ja auch ganz klar nachvollziehbare Struktur ("olk-Volk" usw.) zuletzt gesellschaftskritisch nutzt, scheint sie bei dem französischen Autor frei zu flottieren. Der semantische Bezug ist nicht eindeutig (ulve-vulve), die ganze Szene mit Laura hat keinen direkten psychologischen Bezug auf eine vorhergehende oder ihr nachfolgende Szene. Das sollte ein Leser eines nouveau roman allerdings auch nicht erwarten.

In seinem dritten Seminar über Die Psychosen (1955/56) macht sich Jacques Lacan Gedanken über das eigenartige "Zusammenlaufen", das Syndrom von Entwerfen und Erwarten in "unterbrochenen Sätzen": "Wenn Sie ein Tonbandgerät abschalten, wird der Satz unterbrochen, aber die Wirkung des Satzes hört nicht an derselben Stelle auf." Das ist eine sehr weit reichende Beobachtung, Lacan wird sie vor allem fruchtbar machen für seine Interpretation der Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, das ist die Autobiografie des "Psychotikers" Daniel Paul Schreber. Dieser wird u.a. von Stimmen belästigt mit Sätzen, die vor der "signifikativen Wende" abbrechen und es Schreber überlassen, sie zu ergänzen. Das Delirium ist dann gewissermaßen hausgemacht. Nicht immer läuft diese Struktur so perfide ab wie bei Schreber. Aber ein gewisser Automatismus scheint doch häufig auch im normalen Sprechen zu unterstellen zu sein, vielleicht ist es das, was Heidegger meinte, wenn er sagte, dass die Sprache spreche. Die beiden Sätze vor dem obigen Lacan-Zitat lauten: "Für die Bedeutungsphänomene ist es wesentlich, dass der Signifikant nicht zu zertrennen ist. Man teilt einen Signifikanten nicht in Stücke wie man ein Band eines Tonbandes in Stücke teilt." Dem Tonband ist es egal, was auf ihm gespeichert ist. Da aber ein Signifikant nie alleine kommt, ist er immer mit gewissen "Implikationen" geladen. Was eben nicht heißt: mit bestimmten Bedeutungen. Auch wenn Lacan in diesem Abschnitt den Schnitt eher auf Satz- als auf Wortebene anzulegen scheint, gilt doch auch für das abgeschnittene Wort (den durchtrennten Signifikanten), dass es ergänzt wird, unabhängig davon, ob man ein "professioneller Hörer oder Entzifferer" ist. Noch mehr als im normalen Diskurs ist hier natürlich Platz für Missverständnisse, aber das ist nicht der Punkt. Die Fluchtpunkte des Signifikanten, seine Bedeutsamkeiten, seine "Richtkräfte", um es mit Joseph Beuys zu sagen, der damit auf Rudolf Steiner zurückgreift, sind das je eigene Delirium, mit dem wir unsere Welt bauen.

Dieter Wenk (9-16)

 

Heinrich Böll, Haus ohne Hüter, Lizenzausgabe für den Bertelsmann Lesering mit Genehmigung des Verlags Kiepenheuer & Witsch, Köln, o.J.

Alain Robbe-Grillet, Projet pour une révolution à New York, Paris 1970 (Les Éditions de Minuit)

Jacques Lacan, Le Séminaire, livre III, Les Psychoses, Paris 1981 (Seuil)