20. August 2016

Mit den Augen meines Bruders

 

Seine Wohnung roch wie immer muffelig. Ich ging, oder kämpfte mich durch die Zimmer. Überall lagen Sachen herum, zumeist Bücher, Zeitschriften oder Papier, dazwischen Geschirr mit eingetrockneten Essensresten. Knapp zwanzig Jahre hatte er hier gehaust. In dieser kleinen Zweizimmerwohnung im fünften Stock eines Sozialbaus. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr besucht, die Kinder auch nicht. Er hatte seine Nichten bestimmt seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. So hatte er nicht mal mehr mitbekommen, was für verwöhnte, gelangweilte und smartphoneabhängige Teenager sie inzwischen geworden waren. Und trotzdem konnten sie mich jederzeit um den Finger wickeln. Ein Vater kann eben nicht aus seiner Haut. Es war alles Monikas Schuld; irgendjemandem muss man ja schließlich die Schuld geben. Monika wollte nicht mehr, dass er uns besuchte, und ihn besuchen wollte sie schon gar nicht. Sie war nie besonders gut mit meinem Bruder zurechtgekommen, besonders nicht in den letzten Jahren, in denen er sich immer mehr zurückgezogen hatte. Die Grillparty vor sechs Jahren – das letzte Mal, als er bei uns gewesen war – wäre beinahe in einer Katastrophe geendet. Nicht nur, dass er beim Feuermachen beinahe die Terrasse abgefackelt hätte, er hatte die Mädchen später auch noch erfolgreich zum Weintrinken animiert, und dabei waren die beiden damals gerade mal sechs Jahre alt gewesen. Zoé übergab sich die ganze Nacht über, und wir (hauptsächlich Monika!) hatten sogar überlegt, den Notarzt zu rufen.

Dein Bruder betritt unser Haus nie mehr, schrie Monika außer sich. Ich musste es ihr versprechen, was nicht so schwierig war, denn Moritz verlangte es nicht danach wiederzukommen. Er fand meine Töchter gewöhnlich, und Monika hielt er für kalt und begrenzt. Er brauchte es mir nicht mal zu sagen. Ich sah’s an seinem Blick. Der Blick sagte alles, und er verletzte mich. Dieser Blick verletzte mich deshalb so sehr, weil ich wusste, dass Moritz nicht ganz falsch lag. Und leider lag er sehr selten falsch. Außer in seinem eigenen Leben. Für mich war es immer ein Rätsel geblieben, wieso er aus seinem Potenzial nichts gemacht hatte, außer dieser dämlichen Schreiberei, die ihm in knapp dreißig Jahren wahrscheinlich weniger als tausend Euro eingebracht hatte.

Werd doch Journalist, wenn’s mit deinen Texten nicht so richtig läuft, schlug ich ihm einmal vor.

Er lachte bloß und sah mich mitleidig an, obwohl doch eigentlich ich ihn so hätte anschauen sollen.

Was bringen dir deine vier Buchveröffentlichungen, wenn die Dinger eh kaum ein Mensch liest, provozierte ich ihn weiter. Wie zum Teufel willst du davon leben?

Wieder lächelte er bloß nachsichtig und entgegnete, und das in keineswegs herablassendem Ton:

Bruder, es würde mich ehrlich freuen, wenn du leben würdest, und wenn’s nur mal einen Tag lang wäre.

Seine Überheblichkeit – die gar keine Überheblichkeit war, was ich aber erst kürzlich begriffen hatte – machte mich rasend.

Dann leb doch wie ein Penner, schrie ich weiter, inmitten all deiner Bücher und Zeitschriften, wenn dich das glücklich macht, bitte, aber lass uns in Frieden.

Um ehrlich zu sein, ließ er uns in Frieden. Nie hätte er uns belästigt, oder um irgendwas gebeten, er kam zurecht, wenn es sein musste, aß er eben mal zwei Tage kaum etwas. Ständig stand er im Konflikt mit dem Jobcenter, das ihm in stumpfer Regelmäßigkeit Maßnahmen wie Pizzakurier, Straßenkehrer oder Zeitungsausträger aufzwingen wollte, worauf mein Bruder seinem Fallmanager jedes Mal ins Gesicht lachte, oder ihn mit Eichmann verglich, was ihm, neben den Sanktionen, auch noch eine Strafanzeige wegen Beleidigung eingebracht hatte.

Ich musste mir eingestehen, dass ich meinen Bruder gar nicht aus Schuldgefühl besuchte, sondern nur darum, weil es mir damals unangenehm war, einen jüngeren Bruder zu haben (ich war ein Jahr älter als er), der wie ein Aussteiger oder Penner lebte. Schließlich wohnten wir in einer Kleinstadt, jeder kannte jeden. Monika hatte sich mehrfach wütend bei mir beschwert, dass sie beim Einkaufen oder beim Friseur darauf angesprochen worden war, dass mein Bruder mal wieder betrunken singend durch die Einkaufspassage oder über den Marktplatz getorkelt war. Dabei war er kein Alkoholiker, er trank wahrscheinlich sogar deutlich weniger als jedes durchschnittliche Mitglied im Schützenverein. Nur wenn, dann lebte er es aus, und die Menschen, die ihn dabei beobachteten, scherten ihn einen Dreck. Gelegentlich musste ich ihn auch bei der Polizei abholen, wenn sie ihn mal wieder irgendwo aufgelesen hatte. Widerstandslos hatte er sich dann immer abführen lassen und brav die Nacht in der Ausnüchterungszelle verbracht. Monika war jedes Mal vollkommen außer sich gewesen und verbat mir zukünftig, ihn da rauszuholen, was ich natürlich doch wieder tat und was dann meist einen heftigen Streit mit ihr nach sich zog. Aber was sollte ich machen, er war schließlich mein Bruder. Im Stillen bewunderte ich ihn, obwohl ich niemals so hätte leben können. Schon gar nicht ohne Frau, auch wenn ich letztendlich nur so ein schlichtes Exemplar wie Monika ergattert hatte. Er hatte ja immerhin ein paar Jahre seine Sophie gehabt – wenigstens das. Die beiden waren unzertrennlich gewesen und das nicht mal auf unangenehme Weise. Bis sie schließlich einer Hirnhautentzündung erlag – aufgrund eines lächerlichen Zeckenbisses! Danach waren Frauen für ihn kein Thema mehr gewesen. Aber auch Monika hatte ihre guten Seiten; sie mochte Sex, wenn auch heutzutage nicht mehr so stark wie, bevor die Kinder kamen. Aber Sex ist ja nun einmal das zentrale Bindeglied einer Ehe, da wird mir keiner was anderes erzählen. Und derjenige, der das tut, belügt sich selbst. Mir war schon damals klargeworden, dass ich das, was Moritz und Sophie miteinander verband – diese Art von Intensität – mit Monika niemals würde erreichen können. Aber was soll’s und was lohnt es sich darüber nachzugrübeln; Sophie war jetzt bereits seit neun oder sogar zehn Jahren unter der Erde, und Monika erfreute sich noch immer bester Gesundheit. Selbiges galt für ihre Hirnhaut, denn Zeckenbisse hatte sie in den letzten Jahren unzählige gehabt. Kein Wunder, so viel, wie sie immer in unserem Garten herumwuselte.

Schreibst du eigentlich auch Lyrik, hatte ich ihn einmal gefragt.

Bist du wahnsinnig, so tief würd ich niemals sinken, hatte er lachend geantwortet.

Mir war es im Grunde ganz gleich, was er schrieb. Auch Monika hatte sich nie für die schriftstellerischen Ergüsse meines Bruders interessiert. Dazu war ich mir sicher, dass sie sie abgelehnt hätte, obgleich ich zugeben muss, dass auch ich mir nicht sicher war, ob sie mir gefielen. Sie waren mitunter sehr derb, wenn auch teilweise witzig und oft mit feinen Beobachtungen gespickt, aber was versteh ich schon von Literatur.

Zu glauben, Literatur zu verstehen oder eben nicht, ist lächerlich, sagte er einmal. Jeder glaubt sie ohnehin nur aus seiner eigenen begrenzten Glasblase heraus zu begreifen. Müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, also lass es am besten.

Ich ließ es. Und auf meine Frage, wie viele Exemplare er von seinen Romanen verkauft hatte, entgegnete er auch immer nur dasselbe.

Keine Ahnung, frag meinen Verlag.

Das war unser Running Gag, wenn ich ihn besuchte und das fragte. Sein Verlag war vor einigen Jahren in Konkurs gegangen. Sie hatten ihn sogar um die letzten fälligen Tantiemen beschissen, aber Moritz war das vollkommen egal. Geschriebene Bücher gehörten für ihn ohnehin zur Vergangenheit, genau wie das Frühstück, über das sich am Abend auch kein Mensch mehr Gedanken macht. Selbiges galt für den Abverkauf seiner Bücher. Es war ihm scheißegal. Ich konnte es manchmal selbst kaum glauben. In seiner Wohnung lagen auch dutzende, mitunter total verstaubte Literaturzeitschriften herum – mit so hochtrabenden Namen wie „Perspektive“, „Am Erker“, „Akzente“, „Das gefrorene Meer“ oder „Sinn und Form“, in denen er mal etwas veröffentlicht hatte. Nachdem ich erfahren hatte, dass fast keine davon ihren Autoren auch nur einen Cent bezahlt und man lediglich ein oder zwei dämliche Freiexemplare bekommt, hätte ich die Teile am liebsten in den Müll geworfen.

Mach doch, wenn du willst, hatte mein Bruder mich immer wieder ermuntert, aber dafür war ich dann doch zu faul.

Es gibt sowieso zu viele Zeitschriften, fügte er noch hinzu, genau, wie es zu viele Autoren, Banker, Politiker und dämliche Anwälte gibt, und die meisten davon sind genauso nutzlos und überflüssig, wie ich es bin.

Warum machst du es dann?

Ich wüsste nicht, was ich sonst machen sollte, antwortete er trocken, es schirmt mich ab gegen den Schwachsinn und die Borniertheit da draußen.

 

Gott, ist das staubig hier, dachte ich, als ich weiter durch seine Wohnung latschte. Abermals nahm ich mir willkürlich einen seiner Texte zur Hand, die überall in der Wohnung verstreut herumlagen. Einige handschriftlich, einige am Computer geschrieben. Die Handschriftlichen konnte ich kaum entziffern, und die in den Computer gehämmerten erschlossen sich mir nicht immer. Vielleicht waren es unvollendete Entwürfe, aber womöglich war ich jetzt einfach nicht in der Stimmung, seine Arbeiten zu lesen.

Mein Bruder fehlte mir, obwohl ich ihn vor dem Unfall seit knapp einem Jahr nicht mehr gesehen hatte. Es hatte mir immer genügt zu wissen, dass er da war. Was mach ich bloß mit seinem ganzen Kram? Seinen Verlag gab es ja nicht mehr, wem sollte ich es dann schicken, einem anderen Verlag, und wenn ja, welchem? Oder es vielleicht doch alles in ein paar Kartons stopfen und erst mal bei uns im Keller lagern – Monika würde sich freuen – oder einfach alles wegschmeißen. Dieser Idiot! Konnte er nicht besser aufpassen, wenn er über die Straße latscht. Heißt es nicht, Betrunkene und Kinder haben einen Schutzengel. Im Grunde war Moritz doch sogar beides, aber wo zum Teufel war sein verdammter Schutzpatron gewesen, der ihn sicher hätte auf die andere Straßenseite bringen müssen. War wohl nix. Man konnte ihn nicht mal mehr identifizieren, nachdem der Laster über ihn gebrettert war. Nur noch ein Haufen Autorenmatsch war übrig. In diesem Zustand konnte er Sophie im Himmel wohl kaum unter die Augen treten. Sie würde sich mächtig erschrecken. Was denke ich hier eigentlich für einen Unsinn? Verdammt, mein Bruder fehlt mir.

Ich schlenderte weiter durch die Wohnung. Gott, ist die Luft hier staubig, meine Nasennebenhöhlen drehten schon durch. Ich holte mein Taschentuch raus. Scheiße, heute ist Mittwoch. Zoé muss ja zur Nachhilfe. Morgen ist die Klassenarbeit. Wenn ich sie da zu spät hinbringe, macht Monika mir wieder die Hölle heiß. Was soll’s, sonst findet sie einen anderen Grund, Gründe findet sie ja immer. Ich will noch ein bisschen hierbleiben, auch wenn die stickige Luft hier kaum auszuhalten ist. Vielleicht sollte ich endlich mal ein Fenster aufmachen. Egal, ich muss sowieso gleich los, bin eh schon viel zu spät. Er fehlt mir, der verdammte Mistkerl, und doch hätte ich niemals mit ihm tauschen wollen, oder vielleicht doch – vielleicht wenigstens mal für einen Tag.

 

Jörn Birkholz