18. April 2016

Intellektuellendämmerung

 

Gedanken zum Tumult der neuen Rechtsintellektuellen

von Hans-Willi Weis

 

I

Wieder einmal „Intellektuellendämmerung“. Diesmal so, dass auch der nicht naive Beobachter sich die Augen reibt. „In Sachen Safranski sind Sie ein Prophet“, schrieb mir Thomas Assheuer zu meiner ein Jahr zurückliegenden Safranski-Glosse („Numerus Clausus im neugermanistischen Biedermeier?“[1]). Bedurfte es unter den eingeschränkten Sichtverhältnissen einer Dämmerung – jener „Intellektuellendämmerung“ – einer seherischen Gabe, um am Horizont die Grimassen der sich formierenden Intellektuellen-Pegida zu erkennen? Ich glaube nicht. Der diskursive Nebel – nicht Sloterdijks giftiger „Lügenäther“ – mag noch so undurchdringlich erscheinen, bei geistiger Präsenz wird dennoch manches transparent. Solche „Gegenwart“ setzt freilich Praktiken des wiederholten Rückzugs vom Diskursgeschehen voraus, was unter anderem eine gewisse Distanz zu den eigenen Affekten ermöglicht. Ohne die Kunst dieser methodischen Askese folgen Intellektuelle einmal mehr reflexhaft den Zwängen des medialen Diskurses, dessen „Machtdispositiv“ (Foucault) weder nach Gesichtspunkten der Wahrheitsfindung verfährt, noch am Kriterium intellektueller Redlichkeit ausgerichtet ist.

 

Wer sich wundert und ins Grübeln gerät über die Indolenz fremdem Leid gegenüber, wie sie in den Äußerungen und der politischen Positionierung von Rüdiger Safranski, Peter Sloterdijk und einigen anderen Publizisten und Intellektuellen in der Debatte um Flucht und Migration zutage tritt, oder wer auch bloß die analytische Unschärfe, den „Tanz der Metaphern“ und das „Dahergerede“ beklagt wie Herfried Münkler in seiner Replik auf Sloterdijk (DIE ZEIT vom 10.03.2016), wird die Ursache all dessen nicht einfach im persönlichen Naturell, in charakterlichen Defekten oder einer intellektuellen Insuffizienz suchen. Nicht weniger erstaunt, wie sehr die Betreffenden alle (Selbst)Distanz vermissen lassen und ohne Reserve einen durch die Medien und deren Betriebsklima stimulierten Willen zur Diskursmacht ausagieren. Wie beim Geld ist bei der Aufmerksamkeit und was sie an Diskursmacht verspricht das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens außer Kraft, besonders im Fall der Großmogule medialer Aufmerksamkeit Suchtverhalten also vorprogrammiert. Was nichts relativiert und erst recht nichts entschuldigt am zu beobachtenden Ergebnis. Sloterdijk empfiehlt zur effektiven Abwehr der Gefahr, dass wir uns von einer ‚frevelhaften Zahl‘ an Armuts- und Bürgerkriegsflüchtlingen (unter denen „Asylberechtigte“, etwa die Assads Bombenterror und den syrischen Folterkellern Entronnenen, lediglich eine Teilmenge bilden) „überrollen lassen“, die Anwendung „wohltemperierter Grausamkeit“, die er wiederum mit dem Hinweis legitimiert, es gebe „keine Pflicht zur moralischen Selbstzerstörung“. Da fällt es schwer, nicht die Vermutung anzuschließen, die „moralische Selbstzerstörung“ sei just die seinige. – Sprach Sloterdijk vor Jahren noch vom „Narrenschiff des Universalismus“, dem er die rhetorische Figur der „guten Gewohnheiten gemeinsamen Überlebens“ entgegensetzte, lässt er mit seinen Ratschlägen zur Flüchtlings- und Migrationspolitik durchblicken, was wir uns darunter konkret vorzustellen haben.

 

Unter den Bedingungen des „Ausnahmezustands“, den sich der nicht präsente deutsche Staat und seine ahnungslosen Politiker von den Flüchtlingen haben aufzwingen lassen, steht ein „gemeinsames Überleben“ im globalen Maßstab für Sloterdijk und Safranski sowieso nicht mehr zur Debatte. Hauptsache wir sind es, die überleben und mit uns die deutsche Kultur. Innerhalb dieses ‚je-unsrigen‘ macht sich Safranski darüber hinaus publizistisch stark für das ‚je-meinige‘ des Anspruchs auf ein „gelingendes Leben“. Eine Forderung, die am Beispiel Goethe, am exemplarischen ‚Kunstwerk seines Lebens‘ (so der Untertitel von Safranskis Goethe-Buch) explizit ins Ästhetische überhöht wird. Bemerkten bislang nur wenige das gesellschaftlich und moralisch Fragwürdige der Idee der Lebensästhetisierung und das Gedankenlose der verbreiteten Rede von einem „gelingenden Leben“ – dass man diejenigen pauschal abwertet und ebenso arrogant wie ignorant normativem Druck aussetzt, deren Leben, deren empirische Existenz, bereits in der Anmutung die Gelingensnorm verfehlt –, so lässt Safranskis Reaktion in der Flüchtlingsfrage nunmehr tiefer blicken: Er distanziert sich nicht nur gedanklich oder auf der Ebene der Idee, das heißt normativ und insbesondere durch ein ästhetisches Werturteil, von dem, was in der Konsequenz seiner Denk- und Sprechweise wohl als ‚misslingendes oder misslungenes Leben‘ zu qualifizieren wäre. Er möchte es sich auch praktisch vom Leib halten. Dies sagt er und unterstreicht es angesichts des massenhaft misslingenden und misslungenen Lebens der Kriegs- und Armutsflüchtlinge, das einen „funktionierenden Staat“ wie den unsrigen bedrohe, indem er sich der Rhetorik und des Gestus der Selbstbehauptung bedient, wie man dies von Rechtsintellektuellen kennt. Wer sich innerhalb und auf dem Territorium unseres Gemeinwesens die Option einer Ästhetisierung seines Lebens offenhalten möchte, muss die Identität und die Grenzen dieses Gemeinwesens schützen und sich gegen die von außen eindringende Miserabilität und Hässlichkeit zur Wehr setzen. Statt sich durch „moralistische Infantilisierung“ fremdem Leid wehrlos auszuliefern, sollen wir uns – „verantwortungsethisch“ nennt er dies – gegen dasselbe unempfindlich machen, „anästhesieren“.

 

Einen „abscheulichen Begriff“ nannte John Rawls das Wort und die leichtfertige Rede vom „guten Leben“[2]. Habermas pflichtet ihm bei. Mit Blick auf Safranskis deutsche ‚Stunde der Selbstbehauptung‘ kein übertriebenes Urteil. – Und wie verhält es sich hinsichtlich des Literaturspezialisten Ulrich Greiner, 1986 bei der ZEIT Nachfolger des gerade geschassten Feuilleton-Chefs (und bekennenden, damals nicht ohne Grund nur äußerst diskret bekennenden Homosexuellen) Fritz J. Raddatz? Unter der Überschrift „Vom Recht, rechts zu sein“ bekennt sich Greiner in der ZEIT vom 10.03.2016 zu einem aufgeklärten Konservatismus, der auf 3 Werte-Fundamenten ruhe. Eines davon der Schutz von Ehe und Familie durch den Ausschluss gleichgeschlechtlicher Paare von dieser Institution. Würde mich der aufgeklärte Konservative Ulrich Greiner bitte einmal darüber aufklären, was an der Existenz gleichgeschlechtlicher Ehen ein ‚gutes Eheleben‘ zwischen Mann und Frau und endlich das ‚gute Leben‘ eines älteren konservativen Herrn, so Greiners Selbstbeschreibung, gefährden sollte?

 

Wenn schon eines gegen ein anderes zu behaupten Anlass besteht, dann sind es verfassungsrechtlich garantierte Normen wie Asylrecht und Flüchtlingsschutz sowie international anerkannte zivilisatorische und humanitäre Standards. Ihre Beachtung und Durchsetzung derzeit gegen diejenigen zu verteidigen, die ihre Geltung, Legitimität, politische Opportunität, Praktikabilität etc. infrage stellen und glauben, in bedrohlichen Zeiten wie dieser uns den Segen solcher Wohltaten nurmehr dadurch erhalten zu können, dass die Respektierung und Anwendung unter den Vorbehalt der Staatsraison gestellt wird. Z.B. nur so viele Flüchtlinge ins Land zu lassen und nur so vielen Asyl zu gewähren, wie dies „politisch verträglich“ und „für die Bevölkerung erträglich“ sei, so der Staatsrechtler Christian Hillgruber kürzlich im Deutschlandfunk.[3] Es käme einem Verrat an der Sache gleich und würde im Übrigen auch realpolitisch keine Erfolgsaussicht haben, unsere politisch freiheitliche Ordnung (Rechtstaat und Demokratie, Schutz der Person sowie Garantie ihrer Freiheit und Selbstbestimmung) – der eine von im wesentlichen zwei ‚Attraktoren‘, die unser Land ‚für Fremde‘ und insbesondere für an Leib und Leben Bedrohte und unter Unfreiheit Leidende so anziehend erscheinen lassen – durch nationalstaatliche Abschließung und territoriale Abriegelung verteidigen zu wollen gegen eine vermeintliche Bedrohung durch illegitime Begehrlichkeiten von außen, von jenseits der Grenzen.

 

Genau dies fordert Sloterdijk und signalisiert seinen Anspruch auf die intellektuelle Führung des Aufstands der ‚Identitären‘ gegen die das Staatsgebiet der Bundesrepublik (und mithin ein Stammterritorium des Abendlandes) mit dem terroristisch verseuchten Fellachentum des Islams flutenden Vaterlandsverräter in Politik und Medien.[4] Kaum überraschend, dass Sloterdijk auch hier sein demagogisches Talent ausreizt. Der Baden-Württemberger AfD-Vorsitzende hat (in einer Politikerrunde zu den Landtagswahlen) von 650 Millionen gesprochen, die „in Nordafrika auf gepackten Koffern sitzen“. Sloterdijk hat eine andere Zahl parat: Im „Cicero“ spricht er von „1,5 Milliarden Menschen“, die „zur Stunde“ in „dem islamischen Gürtel zwischen Marokko und Indonesien“ leben und von denen „nach jüngsten Erhebungen“ wenigstens „ein Drittel nach Europa oder in die USA auswandern möchte und zwar lieber heute als morgen“. Sloterdijks Gewährsmann, „ein Spezialist für Demographie“, der ihm die prognostische Arithmetik und ihre atemberaubende Komplexitätsreduktion „neulich erklärte“, heißt Gunnar Heinsohn – „Söhne und Weltmacht“ sein Buch, ein Versuch, den Leser das Fürchten zu lehren.

 

Mit „Dumpfbacken“ hat Sloterdijk erklärtermaßen nichts am Hut, an anderer Stelle im Cicero-Interview spricht er von „Vergeistigung“. Die diskursive Performance des Meisterdenkers simuliert und suggeriert mit ihren Begriffsschäumen und wolkigen Metaphern eine geistige Höhenregion, die den, so Sloterdijk, „Ideenmüll“ der AfD weit unter sich zurückgelassen hat. Um das Bodenpersonal der AfD und deren gedankliche Mülltrennung kümmert sich Sloterdijks Ex-Assistent (an der Karlsruher Hochschule für Gestaltung) Marc Jongen. Ein gelehriger Schüler seines Meisters schwadroniert Jongen im Jargon Sloterdijks über den „Thymos“, über Ehre, Stolz und Zorn, die deutschen Männern – ein Akt der Wehrkraftzersetzung – systematisch aberzogen wurden. Er spricht von „thymotischer Unterversorgung“ der deutschen Bevölkerung (im Gespräch mit FAZ-Journalisten vom 15.01.2016). Pegidisten machten sich auf Deutschlands Straßen und Plätzen daran, die leergeräumten Zorndepots wieder aufzufüllen.

 

„Letzte Ausfahrt Empörung“, lautet Sloterdijks poetische Umschreibung des Phänomens, er kann es sprachlich eben ungleich besser. „Mit einem Mal“, so Sloterdijks Euphemismus, der einem den Atem verschlägt, „steht er wieder auf der Bühne – der thymotische Citoyen, der selbstbewusste, informierte, mitdenkende und mitentscheidungswillige Bürger, männlich und weiblich, und klagt vor dem Gericht der öffentlichen Meinung gegen die misslungene Repräsentation seiner Anliegen und seiner Erkenntnisse im aktuellen politischen System.“ – „Indigniez vous!“, „empört euch!“ ermunterte vor Jahren Stephane Hessel, Widerstandskämpfer in der Résistance gegen die deutschen Okkupanten und Mitinitiator der UN-Menschen­rechtserklärung, Jugendliche über Landes- und Staatsgrenzen hinweg. Er wünschte sich, dass sie sich auflehnen gegen soziale und politische Zustände, die Teilhabe, Gleichberechtigung, Inklusion verweigern, die Egalität und soziale Gerechtigkeit verhindern. Wogegen lehnt sich der Adressat von Sloterdijks Anstiftung auf? Der „Bürger, der empörungsfähig blieb, weil er trotz aller Versuche, ihn zum Libidobündel abzurichten, seinen Sinn für Selbstbehauptung bewahrt hat“?

 

 

II

Die Argumentation der neuen Rechten unter Deutschlands Intellektuellen, mit der sie ihren Alarmis­mus begründen, hat kulturalistischen Zuschnitt und unterscheidet sich damit nicht von den intellektuellen Traditionen des deutschen Rechtskonservatismus.[5] Das kulturelle Erbe, das sie gefährdet sehen, die nationalen oder auch nur hiesigen „Werte“, für deren Gralshüter sie sich ausgeben, werden vor allen Dingen rhetorisch beschworen. Die nationale Kultur, der Nationalcharakter, das Deutschtum (das „Wesen der Deutschen“, nach dem sich der Redaktor der Schweizer „Weltwoche“ bei Safranski erkundigt, der darüber so viel nachgedacht und so eindringlich geschrieben habe) sind weit mehr eine dem Imaginären entsprungene, ideologische und propagandistische Fata Morgana denn eine reale Größe, die in zeitgenössischem Gestalten des ‚objektiven Geistes‘ institutionell und verhaltenswirksam (etwa in der Form von Bildungsprozessen) konkret nachweisbar wäre.

 

Nicht einen hehren kulturellen Status quo der Besitzstände, so mein Verdacht, verteidigen die rechtsintellektuellen Alarmisten, sondern den prosaisch gesellschaftlichen Status quo der Besitzstände und Machtverhältnisse hierzulande. Die in Wahrheit ausgesandte Botschaft ist ein entschiedenes ‚störe meine Kreise nicht!‘. Die Kreise jenes die Grenzen der eigenen Person bis an die Staatsgrenze erweiternden Kollektivsingulars, der sich gern als „selbstbewusste Nation“ präsentiert. Die Ungestörtheit und der Genuss der eigenen saturierten Existenz gebietet es, außerhalb der Grenzen Europas verursachte „Kalamitäten“ (Safranski) von der bundesrepublikanischen Wohlstandsinsel und ihrem Glacis, den sie umgebenden EU-Staaten, fernzuhalten. ‚Unser Wohlstand‘ gehört uns, den möchten und den werden wir keinesfalls mit anderen teilen und schon gar nicht mit den Flüchtlingen der ganzen Welt, die, ginge es nach unserem Asylrecht, Anspruch auf Teilhabe geltend machen könnten. In seinem Schwarzwaldidyll in Badenweiler zeigt sich der Biographist deutscher Geistesheroen fassungslos. Er und seine „liberalkonservativen“ Gesinnungsfreunde wissen: Unser westlicher Lebensstandard – der zweite Attraktor, der Deutsch­land ‚für Fremde‘ so anziehend erscheinen lässt, dass sie sich selbst unter Lebensgefahr auf den Weg machen – ist nur exklusiv haltbar. – Dies ist des Pudels Kern hinter allem rechtsintellektuellem Kultur- und Wertegetöse.

 

Nun muss man nicht der Papst sein, um von anderer Warte aus ebenfalls zu konstatieren, dass der Lebensstil und Lebensstandard des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells allein des absehbaren ökologischen Kollaps wegen global unhaltbar ist, wobei von der unhaltbaren wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit noch nicht die Rede ist. Dies muss allerdings nicht heißen, dass ich die gleiche brutale egoistische Konsequenz ziehe, wie jene es tun. Weshalb für uns kein Grund besteht, das ‚Unhaltbarkeitsaxiom‘ aus taktischen oder Opportunitätserwägungen auszublenden. Denn was es beinhaltet, trübt ungeachtet aller Willkommenskultur – ein unglücklicher, weil in Anbetracht des Flüchtlingselends und seiner Ursachen unpassender Ausdruck – die Zukunftsperspektive für alle, für Ankömmlinge wie für ‚Alteingesessene‘, die jenen auf zivilisierte und humane Art und Weise begegnen.  

 

Es wäre ein ‚weichgespülter‘ intellektueller Linksliberalismus (im Falle des Linksliberalismus von Politikern ist man schon zufrieden, wenn es ihn überhaupt noch gibt), der sich in der Diskussion um Flucht und Migration bei den Argumenten für eine kluge Integrationspolitik und dem Hinweis auf den demographischen Gewinnsaldo beruhigt und nicht auch in diesem Zusammenhang die ‚Systemfrage‘ stellt: die der kapitalistischen Wirtschafts- und Finanz(un)­ordnung, ihrer Modellierung der Gesellschaft, der Lebensstile, der Mentalität. Jenes Systems, dessen weltweite Dynamik die globalen Flüchtlingsströme und Migrationsbewegungen mit ausgelöst hat. Ohne dass darum auch schon jede Despotie, jeder „failed state“ und jedes humanitäre Desaster irgendwo auf dem Globus auf dieses Konto gingen. – Und ohne dass diese grundsätzliche oder Systemfrage aufzuwerfen auch bereits hieße, probate Antworten oder Lösungsvorschläge im Köcher zu haben. Wenn Slavoj Zizek einen „neuen Klassenkampf“ postuliert, zu welchem sich einheimische Marginalisierte mit den ‚Minderbegüterten‘ unter den Flüchtlingen und Zugewanderten vereinigen müssten, so halte ich dies – neben anderen floskelhaften Postulaten Zizeks in „Der neue Klassenkampf“ wie z.B. „Der Nationalstaat muss radikal neu gedacht werden“ – für eine aus Verlegenheit erzeugte Sprechblase.

 

Nicht nur weil der spröde Duktus sich wohltuend von linker Phraseologie abhebt, zuletzt noch Axel Honneth. Die notabene im juristischen Wortsinne rechtspolitisch akzentuierten Argumente Honneths stehen überdies für eine gewisse Gelassenheit in der Sache. „Zunächst mal ist das Flüchtlingsproblem und die Bewältigung der Flüchtlingsmassen, vor allen Dingen aus Syrien, schlicht und einfach ein Diktat des Rechts… Wir stehen nun mal unter rechtlichen Bedingungen, und wir müssen, glaube ich, auch als Intellektuelle zunächst mal darauf achten… dass bei all den neuen Maßnahmen, die ergriffen werden, dieses Recht so penibel wie möglich und so genau wie möglich eingehalten wird. Jeder Flüchtling hat zunächst mal einen individuellen Anspruch auf Prüfung seines Asylanspruchs.“ Ein rechtspolitisches Szenario, im Rahmen dessen „im Augenblick dieses europäische Gemeinwesen ohne relativ stabile Außengrenzen nicht recht vorstellbar“ ist. – Auf die Frage, ob damit nicht „die Idee einer weltweiten Gerechtigkeit oder eines weltweiten Miteinanders“ aus dem Blick gerate, gibt Honneth zu verstehen: „die Idee einer weltweiten Gerechtigkeit ist eine, wie ich finde, extrem anspruchsvolle, gute Idee. Die Frage ist, wo beginnt man bei der Umsetzung solcher Grundsätze und solcher Überlegungen und Prinzipien… Das muss man schrittweise erarbeiten, etwa indem man daran geht, sich Gedanken über das Nord-Süd-Gefälle zu machen, das ja gravierend ist und das massiv zu einer Verarmung des afrikanischen Kontinents über die letzten Jahrzehnte geführt hat. Und darein, wie dieses Gefälle zu beheben ist, muss man auch institutionelle Fantasie investieren. Das werden keine Gewaltakte sein, da ist auch keine Revolution vorstellbar, sondern es wird eher die mühselige Schaffung von Institutionen sein, die schrittweise solche Gerechtigkeiten herbeiführen.“ (SWR2 Kulturgespräch vom 22.03.2016). – Linksliberales Pfeifen im Wald? Hoffentlich nicht. Mit Bezug auf hyperkomplexe und hyperkonnektive, transnationale Zusammenhänge ist möglicherweise eben dies der Weisheit letzter Schluss: die ‚Systemfrage‘ stellen als stellte man sie nicht.

 

III

Bleibt die Frage nach dem ‚System‘, in dem die Intellektuellen gefangen sind, der medialen Diskurs­maschinerie. Sie macht zu Marionetten, die mechanisch nach Impulsen des Begehrens und der Macht funktionieren. Dynamiken, die allem Anschein nach die Unbestechlichkeit und den ‚Klarblick‘ auch bei Intellektuellen des linksliberalen Spektrums gefährden oder in Mitleidenschaft ziehen (des linksliberalen Mainstream, der, so Albrecht von Lucke, noch immer die Hegemonie in den Qualitätsmedien besitzt). Handelt es sich doch in der Mehrzahl der Fälle intellektueller Konversion und des überraschenden und mehr oder minder spektakulären ‚Übertritts‘ ins Lager der Rechtsintellektuellen um ‚Abgänge‘ aus dem linksliberalen Milieu. Wie jedoch soll man glauben, dafür seien – nur weil man es hier mit außergewöhnlich intelligenten Leuten zu tun hat – letztlich sachliche Gründe und Argumente ausschlaggebend? Zum Beispiel solche, die sich (siehe Frank Böckelmann) prima vista und jeweils für sich betrachtet ausnehmend gescheit anhören, sich jedoch im Kontext der verfolgten Diskursstrategie bzw. der vom Sprecher beabsichtigten Wirkung als geradewegs vergiftet herausstellen, missbraucht für einen demagogischen Zweck.

 

Ich gebe eine längere Passage von Frank Böckelmann wieder, weil es mir nützlich erscheint, sich dieser Rede unter Schmerzen auszusetzen, um dank der letzteren, der Pein, gegen die Absicht jener, der Rede, gefeit zu sein in Phasen relativer Geistesabwesenheit, gegen die wiederum die wenigsten gefeit sind: „Unter dem Aspekt des reibungslosen Ablaufs einer unterschiedslosen Aufnahmepraxis treten habituelle Eigenwilligkeiten der Neubürger als Störfaktoren zutage. Unterschiedslosigkeit reduziert das Nebeneinander aufs Überleben. Erst einmal überleben, ist das nichts? Aber das Gesetz des bloßen Überlebens geht in Westeuropa und Nordamerika über Notdurft weit hinaus. Es setzt sich fort im Optimierungsdruck auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt, in der Bewirtschaftung der eigenen Vitalressourcen und im Verlust der symbolischen Dimension in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern und zwischen Eltern und Kindern. In den orientalischen und afrikanischen Kulturen wird die abstrakte, d.h. ökonomische, Selbsterhaltungsnorm durch Verpflichtungen zur Fürsorge und Ehrerbietung abgefedert. Einwanderern, deren Dasein auf blankes Überleben und Überlebenlassen (ohne ererbte Inbrunst) zurechtgestutzt wird, verlieren ihre Würde. Diese hängt an dem, was mit ‚unseren Werten‘ unvereinbar ist. Erst nach und nach wird es den neuen Mitbürgern dämmern, dass wir ihre freiwillige Kastration erwarten. Für dieses Risiko haben die ‚Flüchtlinge‘ kein Organ.“

(Aus „Völkerfußwanderung 2015“, Editorial der Zeitschrift „Tumult“, dem Theorieorgan der Intellektuellen-Pegida.)

 

Müssen wir uns dies antun? Müssen wir nicht, sollten es aber. Und noch etwas wäre hilfreich „Ich glaube, es ist so, als Intellektueller braucht man manchmal eine Pause. Das, was sich in der Diskussion entwickelt in unserem Land, was sich nach Köln entwickelt hat, - ich verliere meine Beurteilungssicherheit ein wenig…“so Udo di Fabio im Gespräch mit Navid Kermani, auf einem vom WDR und der ZEIT veranstalteten Podium . –Vielleicht hat di Fabio (wie schön, auch einmal einen Liberalkonservativen, der nicht vom Schlage Safranski zu sein scheint, zitieren, zustimmend zitieren zu können) Nietzsches Intellektuellendämmerung, pardon „Götzen-Dämmerung“, gelesen. „Auf einen Reiz nicht sofort reagieren, sondern die hemmenden, die abschließenden Instinkte in die Hand bekommen. Sehen lernen, so wie ich es verstehe, ist beinahe das, was die unphilosophische Sprechweise den starken Willen nennt: das Wesentliche daran ist gerade nicht zu >wollen>, die Entscheidung aussetzen können. Alle Ungeistigkeit, alle Gemeinheit beruht auf dem Unvermögen, einem Reize Widerstand zu leisten – man muß reagieren, man folgt jedem Impulse.“

 

Müssen sich Intellektuelle der ubiquitären „Unruhe des Diskurses“ (Foucault) pausenlos, bis an die Grenze intellektueller Erschöpfung und darüber hinaus bis (siehe Sloterdijk) zur „moralischen Selbstzerstörung“ aussetzen? Bis sie nur noch geistesabwesend anwesend sind. Somnambule Empfänger und Emittenten diskursmechanisch in sie eintretender resp. sie verlassender libidinöser und aggressiver Energiequanten. Wenn sich Intellektuelle des linksliberalen Spektrums plötzlich im Habit des Rechtsintellektuellen ideologisch auf dem entgegengesetzten Pol wiederfinden, so muss dies kein Beleg für die Wirksamkeit des zwanglosen Zwangs rationaler Argumente sein. Den ‚verwunderlichen Effekten‘ der sich um Rationalität nicht scherenden Diskursmaschinerie ist man desto eher erlegen, als es einem an der Kraft zur Distanzierung mangelt. – Aber wer wollte ernstlich behaupten, in ihm habe sich alle Kraft zur Distanzierung erschöpft. Ich kann mir keine Verstrickung, keine affektive ‚Involture‘, des Intellektuellen in eine diskursive Rivalitäts- und Machtkonstellation vorstellen, in der für ihn nicht noch immer die Möglichkeit bestünde, sich durch regelmäßige Ab­stand­nahme, disziplinierte ‚Désinvolture‘, aus ihr zu lösen. So betrachtet besteht allzeit Hoffnung auf einen souveränen Zustand von Geistesgegenwart, der zu klarem Denken disponiert, einem unbestechlichen Urteil und zu Mitgefühl ohne Sentimentalität.

 

Post Scriptum. Die Nachschrift ist erforderlich, weil Sloterdijk inzwischen seinen Kritikern und böswilligen Missverstehern gehörig die Leviten gelesen hat (DIE ZEIT vom 03.03.2016). Sie haben ihn wieder einmal komplett missverstanden, missverstehen wollen. Nicht verstanden bzw. nicht anerkennen wollen, dass seine Position und Haltung nicht die eines Rechten, vielmehr die eines „Linkskonservativen“ ist. Was im Übrigen auch für Safranski gelte, dem gleichermaßen Unrecht geschehe und den der Xenophobie zu verdächtigen desto abwegiger sei, als er, Sloterdijk, niemanden kenne, der sich derart liebenswürdig allem Fremden gegenüber aufgeschlossen zeige wie eben (meine Worte) sein Freund Rüdiger. Mit dem er schließlich auch die „linkskonservative Sorge“ teile, was, den Ernst der Lage bedenkend, mit dem Universalismus geschieht. Und sie beide zu dem Schluss habe kommen lassen, dass „das freiheitsbewusste Partikulare bis auf weiteres das einzig tragfähige Vehikel des Universalismus ist“. – Wer unterstellt Safranski (und ihm, Sloterdijk) Fremdenangst oder gar Ausländerfeindlichkeit? Anstoß erregt der militante Gestus der Selbstbehauptung, der sich in ein und dieselbe Sprachtradition einreiht, wie Heideggers „Selbstbehauptung der deutschen Universität“ anno 1933. Die rhetorische Figur verträgt sich auch heute nicht mit substanziell Freiheitlichem, straft dessen angebliche Verteidigung als universelles Recht im Vorgriff auf eine egalitäre und solidarische Weltgesellschaft Lügen. Wem um der Selbstbehauptung seines „freiheitbewusst Partikularen“ willen nichts einfällt als die Errichtung von Zäunen an den innereuropäischen Grenzen und ein martialisches Sicherungs- und Rückführungsregime an der EU-Außengrenze, gewährt dem Universalismus nicht vorübergehendes Obdach, politisch exekutiert wird seine definitive Verabschiedung.

 

In seiner Erwiderung auf Münkler schützt Sloterdijk Bescheidenheit der Absicht vor. Er und Safranski hätten „unabhängig voneinander“ bloß „der Volksmeinung recht gegeben, die in breitester Mehrheit dem Eindruck zustimmt, es habe sich bei der Merkelschen Willkommenspropaganda um eine Improvisation in letzter Minute gehandelt, die aus der Verlegenheit eine überlegte Maßnahme machen wollte“. So viel Unambitioniertheit nimmt man Sloterdijk nicht ab. Ebenso gespielt die Arglosigkeit, ihm ist bewusst: Safranski und er leihen ihre Stimme einer Vox populi, in deren Echoraum gerade die „verbale und physische Brutalisierung gedeiht, von der er sich – auf AfD & Co. und die dort vernehmbaren Töne angesprochen – mit einem Ausdruck der Verachtung abwendet. Fragen hinterlässt auch Sloterdijks Distanzierung von Marc Jongen. Warum hat er so lange dies Natterngezücht an seiner Brust hat genährt? Mir scheint, zu viele Seelen tummeln sich ach in seiner Brust, als dass sie nicht miteinander in Widerspruch geraten. Wenn er seinen TV-Rivalen Precht als „Kläffer“ verunglimpft, der noch immer „nicht weiß, wieviele er ist“, möchte man fragen, ob Sloterdijk denn von sich selber weiß, wieviele er ist. Was er allerdings gar nicht wissen muss, um von seiner multiplen Persönlichkeit vorteilhaften Gebrauch zu machen. Etwa dann, wenn er seine Leser zum Narren hält, indem er ihnen bei Kritik jedes Mal versichert, sie jedes Mal belehrt, nicht dieser sondern jener zu sein, nicht derjenige, der zu sein sie ihm dreist unterstellen, sondern ein ganz anderer.

 

Andererseits nähme es Wunder, wäre unter den mehreren Sloterdijks nicht mindestens einer, der uns in Versuchung bringt, sich mit ihm in schöner Eintracht zu wähnen. Falls mich nicht abermals ein Vexierbild narrt, könnte es der folgende sein: „Nimmt man zur Kenntnis, dass Kultur von bedingten Reflexen getragen wird und dass Zurückhaltung den Basishabitus von höherer Kultur in generi darstellt, liegt auf der Hand, wie sehr die Aufheizung des Debattenklimas in unserem Lande auf eine Tendenz zur Entkulturali­sierung hindeutet.“

 


Anmerkungen:

[1]  Nachzulesen in meinem Buch: Der Intellektuelle als Yogi – Für eine neue Kunst der Aufmerksamkeit im digitalen Zeitalter“, Bielefeld 2015, S. 193 f.

[2]  Näheres dazu, wie überhaupt das Gerede über „gelingendes Leben“, ebenfalls in meinem Buch „Der Intellektuelle als Yogi…“, a.a.O., S. 188 ff. („Dissens über ein ‚abscheuliches Klischee‘“)

3  Damit es nicht so weit kommt, dass aufgrund eines vorübergehenden Überwältigtwerdens durch unkontrollierbare Ereignisse oder Umstände einer Rechtsnorm – der integralen Verfassungsidee des Asylrechts – zuwider gehandelt, gegen sie verstoßen wird, möchte der Ideengeschichtler Heinrich August Winkler lieber gleich Hand an sie legen. Als ideale Fassung des Asylartikels schlägt er vor: „politisch Verfolgten gewährt die Bundesrepublik nach Maßgabe ihrer Aufnahme- und Integrationsfähigkeit Asylrecht.“ – Es ist nicht angenehm, einem soeben mit dem Preis für europäische Verständigung Geehrten widersprechen. Vielleicht hat dennoch jemand auf der Leipziger Buchmesse Winkler in diesem Punkt widersprochen und ihm gesagt, dass er seinen Vorschlag für keine gute Idee hält.

4 Armin Nassehi hat (Interview im SWR2-Fernsehen vom 03.03.2016) darauf hingewiesen, dass es sich bei dem von Sloterdijk, Safranski und anderen behaupteten „Selbst“ (in ihrem Begriff der „Selbstbehauptung“) nicht um einen Reflexionsbegriff handelt, der ein empirisch Gegebenes sprachlich festhält. Dieses Selbst, dessen postulierte Identität und Homogenität werden vielmehr auf diese Weise begrifflich erst hergestellt (auf individueller, gesellschaftlicher, nationaler und ‚Kulturkreis‘-Ebene) und existieren folglich auch nur in einer Logo- bzw. Noosspäre. Was Safranski (im Gespräch mit der „Weltwoche“) unbeabsichtigter Weise einräumt: „Und unser Land ist viel zu wenig mit sich selbst in Übereinstimmung, um einen glaubhaften Integrationsdruck erzeugen zu können.“

5  Aufschlussreiches speziell zu den Wiedergängern der „konservativen Revolution“ von Jongen über Le Pen zu Dugin, ihren liberalismusfeind­lichen Internationalismus und ihren Spiritualismus, lässt sich bei Thomas Assheuer in der ZEIT vom 17.03.2016 nachlesen.