24. November 2015

It's a Bible

 

It´s a Bible. So lautet Le Corbusiers eigenes Urteil über sein erstmals 1930 in Paris erschienenes Werk "Précisions sur un état présent de l'architecture et de l'urbanisme". Mit einer wechselvollen Publikationsgeschichte verbunden, ist das Buch erst ein Jahr vor Le Corbusiers Tod 1964 auf Deutsch zugänglich. Dann wurde es erneut aufgelegt in der verdienstvollen Reihe der Bauwelt Fundamente 1987, schließlich als erste englischsprachige Ausgabe in der MIT Press 1991 und nun erneut in voller Länge inklusive eines neuen einführenden Kommentars von Tim Benton als ergänzter Reprint jener vorzüglichen englischen Ausgabe – in diesem Jahr neu aufgelegt von Park Books.

In der Tat erweckt das schwere Buch eine bibelartige Objekthaftigkeit, allein durch sein kompaktes, dezent nach dem Original gestaltetes Äußeres. Inhaltlich zeigen sich die "Precisions" als ein erstaunlicher Beitrag innerhalb Le Corbusiers neben der Architektur, Malerei, Bildhauerei und Design ebenfalls reichhaltigen Publikationstätigkeit. Im Gegensatz zu seinen wohlkomponierten, strategischen Büchern der 20er Jahre wie "Vers une Architecture" (1922) oder "Urbanisme" (1925), die auf eine bewusste, provokante Bild/Textcollage vertrauen, die aggressiv und beinahe wie ein Filmschnitt die Pyramiden von Gizeh und einen Kugelschreiber einander gegenüberstellen bzw. gleichsetzen, sind die "Precisions" das Ergebnis einer vollkommen improvisierten Bild/Textproduktion Le Corbusiers, die als Zusammenstellung einer Reihe von Vorträgen, gehalten in Südamerika 1929, konzipiert worden sind. Wie in seinem schöpferischen Werk ist damit ein erster radikaler Bruch mit den eigenen, zuvor wie Axiome postulierten Architekturprinzipien festzustellen. Statt radikal rationaler Maschinenästhetik gewinnt zunehmend eine freiere, lyrische Auseinandersetzung an Einfluss innerhalb der ureigenen Themen Corbusier’scher Baukunst (Licht, Maß, Proportion, Form und programmatische Farben/ Geometrie).

Wie Tim Benton in seiner präzisen, äußerst lesenswerten Einführung feststellt, hat Le Corbusier seine Vorträge praktisch überhaupt nicht vorbereitet. Im Gegenteil: Mit einigen wenigen Skizzen auf Hotelpapier Stunden vorher angefertigt, oft thematisch das Ergebnis einer vorhergehenden Stadterkundung, mit deren Analyse er jeweils seine Vorträge eröffnete, verließ sich Le Corbusier ganz auf das improvisierende Erkunden seiner eigenen, bereits seit über zehn Jahren gereiften Theoreme, indem er sie synchron an große Schultafeln oder auf Papierbögen zeichnerisch und verbal Runde um Runde neu entwarf, verwarf, variierte, abänderte oder um prägende Gedanken erweiterte, die vor Ort aus dem Flugzeug oder auf der Fahrt durch exotische Stadtautobahnen von Rio de Janeiro bis Sao Paulo, Montevideo und Buenos Aires erst kurz zuvor entstanden waren.

Diese spontane Methodik wird von ihm selbst als wichtiger kreativer Akt bezeichnet, den er offensichtlich so ernst nahm bzw. seinen Inhalten traute, dass er die Vorträge, die meisten in Buenos Aires gehalten, anschließend reinzeichnete und verbal rekonstruierte und eben gebündelt als "Précisions" seinen Verlegern noch im selben Jahr schickte.

Für diese "lessons in visual argumentation", wie Tim Benton sie bezeichnet, ist es daher vollkommen unerlässlich, sie in voller Länge zu reproduzieren, mit sämtlichen Originalskizzen, Fragmenten, Anakoluthen und Randnotizen. Genau dieses tut der Reprint von Park Books. Das Buch ist eine Bibel. Komplex und abschweifend, erhellend und verblüffend. Le Corbusiers unarrangierte geistige Materie entfaltet sich als "stream of consciousness" vor dem Leser, dessen roter Faden oft verloren geht, der es dem Leser überlässt, seinen eigenen Faden zu finden und durch Redundanzen zu navigieren, um schließlich einen signifikanten Teil der Cobusier’schen Geisteswelt auf der Höhe von dessen kreativer Schaffenskraft mitzuerleben und nachzuvollziehen. Das Buch leistet auf gewissenhafte Weise einen wichtigen Beitrag in einer ganzen Reihe aktueller Veröffentlichungen zu Aspekten von Le Corbusiers Werk, nämlich eine seiner wesentlichen theoretischen Auseinandersetzungen angenehm präzise aufgearbeitet und kundig erläutert wieder zugänglich zu machen.

 

Jonis Hartmann

 

Le Corbusier: Precisions on the present State of Architecture, 408 Seiten, Park Books, Zürich 2015, ISBN 978-3-906027-65-4

 

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