2. September 2015

Symbolische Wetterlage

 

 

Wetterbeobachtungen fallen normalerweise nicht in das Zuständigkeitsgebiet des Anarchisten Erich Mühsam; wenn doch, ist entweder etwas Gravierendes geschehen (vgl. den Beginn der Tagebucheintragung Mühsams vom 3./4. August 1914 zum Beginn des Ersten Weltkriegs), oder es ist mal wieder so weit, oder besser gesagt, es will so scheinen, dass die "Weltrevolution in Windeln zuck[t]": Zu Beginn der Eintragung vom 3. Mai 1921 – Mühsam sitzt nach wie vor ein in der Festungshaftanstalt Niederschönenfeld – liest man: "Das Gewitter zieht sich dichter zusammen. Die ersten Tropfen fallen schon. In der Ferne zucken schon die Blitze." Während die erstgenannte Wetterbeobachtung tatsächlich an eine Lokalität zurückgebunden ist (die Akademie in München), ist die vom 3. Mai wohl reine Symbolik, allein bezogen auf die in Deutschland anstehende Akzeptanz oder Ablehnung der Bedingungen des Versailler Vertrags. Mühsam wünscht die Ablehnung, weil damit das Chaos in Deutschland wüchse und damit die Bedingungen für eine mögliche Revolution oder gar Weltrevolution.


Es sind solche Hoffnungssschimmer, die den Häftling Mühsam am Leben erhalten. Im April 1921 hat Mühsam erst zwei von 15 Jahren Festungshaft verbüßt, und natürlich liest der Inhaftierte das politische Geschehen, das ihn durch den Filter der bürgerlichen Presse erreicht (kommunistische Zeitungen sind für die Gefangenen nicht zugänglich), daraufhin, ob sich die Haft nicht durch externe Vorkommnisse verkürzen ließe. Die taktische Hoffnung Mühsams kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Heft 26 und 27, die das Tagebuch Band 8 (1921) ausmachen, die wohl desolateste Zeit im Leben Mühsams festhalten. Die Gefängnisverwaltung schafft es immer wieder, die Gefangenen, die ja immerhin die gleiche linke Gesinnung teilen, gegeneinander auszuspielen. Schikane folgt auf Schikane, und schon in den früheren Heften musste der Leser zur Kenntnis nehmen, dass die Rede von der gleichen linken Gesinnung zuletzt nicht sehr hilfreich war. Gerade Mühsam als Anarchist weiß, was es heißt, kein "Marxianer" zu sein, ihm ist klar, dass der historische Materialismus keine glaubwürdige Aussicht auf die zukünftige soziale Infrastruktur bereithält, dass die "Dialektik" im Grunde alles rechtfertigen kann (von dieser Dialektik ist Mühsam freilich selbst nicht ganz frei), und dass die revolutionären Massen nicht notwendigerweise nur im Proletariat aufgehen (der naseweise Kommunist vergisst dabei die Lumpen). Neben diesen theoretischen Scharmützeln, die Mühsam jeden Tag auszufechten hat, steht unabänderlich der harte Festungshaftalltag, mit all den Auswirkungen der Diskussionskämpfe, den sich daraus ergebenden neuen Gruppenbildungen mit meist neuen Gegnern, die zu befürchtende oder tatsächliche Isolierung (neben der konkreten Einzelhaft, die auch noch durchzustehen ist, die sich aber für den Schriftsteller Mühsam als äußerst produktiv herausstellt) – für den außenstehenden Leser ein Panorama auf kleinstem Raum voll "Furcht und Schrecken".


Aber die Hoffnung stirbt für den Berufsrevolutionär und Berufsoptimisten Erich Mühsam zuletzt, und irgendwann kommt das gute Wetter so notwendig wie die Revolution.


Dieter Wenk (8-15)


Erich Mühsam, Tagebücher, Band 8, 1921, hrsg. von Chris Hirte und Conrad Piens, Berlin 2015 (Verbrecher Verlag), 272 Seiten, 30 €

 

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