7. März 2015

Absturz in die Kunst

 

Es würde zu kurz greifen, die "Prosa für 7 Stimmen", wie Benjamin Steins Text im Untertitel heißt, als experimentell zu bezeichnen, sollte in der Bezeichnung 'experimentelle Literatur' das Moment ihres (notwendigen?) Scheiterns mitschwingen. Steins verbale polyphone Symphonie kann gar nicht scheitern, sie kann nur das Pech haben, nicht die Leser zu finden, für die das Buch gemacht ist. Es werden nicht sehr viele sein. Das kann auch gar nicht anders sein, denn Ein anderes Blau ist weder Roman noch Erzählung, sondern poème en prose. Handlung wird nicht in und mit Sätzen transportiert, sondern in ihnen aufgelöst, um unterirdisch, subkutan weitergetrieben zu werden, mäanderhaft. Jeder Absatz bietet gewissermaßen eine neue Nuance des (Sich-)Verlierens. Von Beziehungen, Selbstgewissheiten, Einstellungen, aber auch von: Leben. Denn es geht in diesen 100 Seiten auch um den Tod, das Sterben, das Nicht-sterben-können und um den Höhenflug genau in dem Moment, wo man abstürzt.

Fünf Personen werden mit Namen vorgestellt, drei Frauen und zwei Männer, jede der Personen spricht für sich, allein, manchmal appellativ, manchmal wehmütig, manchmal auch zornig. Man mag Ein anderes Blau kathartische Wirkung zusprechen, denn schon nach wenigen Seiten fühlt man sich befreit von der abstrakten verallgemeinerten Kommunikationsverordnung, in der jeder angehalten ist, mit anderen in Dialog zu treten. Davon ist man hier weit entfernt, dieses Buch ist eine Insel, aber diese Insel ist nicht das Paradies. Diese Prosa ermöglicht den Abstand, um mit den Stimmen zu reisen, vielleicht auch gerade dann, wenn man sie schon wieder verlassen hat. Sie ist lyrisch in der Form, innovativ im Umgang mit dem Grauen, das sie mehr andeutet als spektakulär ausschlachtet. Deshalb treten hier auch Geister und Kobolde auf, die Stellvertreter unserer eigenen Imagination. Und so gesellen sich zu den fünf Stimmen und den Off-Stimmen unsere eigenen Stimmen und Stimmungen hinzu, die von jenen unwillkürlich produziert werden, und genau in diesen Zwischenbereichen findet Literatur im eigentlichen Sinn statt.

Benjamin Steins Prosa ist somit eine feine Allegorie auf jene fragile Zone, von der sie selbst ein Ausdruck ist. Die Stimmen wandeln sich bisweilen zu Botengängern von Wünschen und Affekten, für die es keine Trennlinien gibt und die sich am Zielort auf fantastische Weise materialisieren. Alles, was in Dialogen keinen Platz hat, weil es da auch gar nicht hingehört – hier wird es Ereignis, von einer Person, einer Stimme ausgehend und wieder, eingeholt und überlagert von der Produktion des Lesers, zu ihr zurückkehrend. Die Rede von der Sprechblase findet eine magische Erweiterung. Man wird immer wieder, sie selbst mitproduzierend, in sie eintreten können, denn diese Räume haben keinen Anfang und kein Ende.

Ein anderes Blau ist somit ein weiteres Kapitel der nicht abzuschließenden romantischen Literatur, die mehr in dem Phänomen des Atmens als in dem dieses Atmen möglich machenden Muskels ihre Charakteristik findet. Die anatomische Infrastruktur ist zumindest teilweise anheimgestellt, es ist, als ob ein sich selbst immer wieder organisierendes System Lust auf Umbau bekäme.

Es ist schön, dass dieses unzeitgemäße Buch eine zweite Chance bekommen hat, und es wirft auch ein neues Licht auf den Verlag, der sich seiner angenommen hat.

Dieter Wenk (3-15)

Benjamin Stein: Ein anderes Blau. Prosa für 7 Stimmen, Berlin 2015 (Verbrecher Verlag), 107 Seiten, 19 €

 

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