20. Februar 2015

Prokrustes als Modemacher

 

Es ist richtig, dass der französische Schrifsteller und Publizist Philippe Sollers, der behauptet, in seinen Romanen "nichts zu erfinden", das zentrale Ereignis am 13. Mai 1981, das den Aufhänger abgibt für seinen "Roman" Le Secret, tatsächlich nicht erfunden hat, das Attentat auf Papst Johannes Paul II. In diesem 1992 erschienenen Buch passiert noch weniger als in den anderen Romanen von Sollers, was erstaunlich ist, denn die Hauptperson ist ein Geheimagent. Sollers kann seine Romane – nach dem Ende seines avantgardistischen Abenteuers und der Heimkehr ins Reich der katholischen Kirche – nicht mehr so weit drehen wie zum Beispiel eine Elfriede Jelinek mit ihren Clustern von Redeordnungen. Seit dem Ende der interpunktionslosen Phase taucht bei Sollers wieder ein Held mit einer Weltanschauung auf, und der Held steht – meist mit dem genannten oder ungenannten Guy Debord als Programmierer – gegen die Welt. Wer Sollers verstehen will, muss Voltaire und Johannes Paul II. als Partner sehen können.

Hier und da findet man in Le Secret Hinweise auf andere Religionen, zum Beispiel den Islam. Die Reihe, in der dieser genannt wird, ist bezeichnend genug: "Wir haben den Rousseauistischen Terror gekannt, Hitler, Stalin, den epileptischen Islam, und jetzt die Omnipräsente und publizitäre Mafia..." Interessant, dass das islamische Abenteuer schon vorbei zu sein scheint, aber immerhin kündigt der medizinische Begriff der Epilepsie mögliche künftige Episoden des Ausbruchs an. An einer späteren Stelle bekundet der diskursive Held "Misstrauen" gegenüber dem "Croissant". Etwas deutlicher wird der Autor in einem Artikel, den er in seinem Aufsätze und Feuilletons versammelnden Buch Der Geschmackskrieg (1994) aufgenommen hat. Sein Titel: "Mes Musulmanes", es handelt sich also um Frauen, nicht um Männer. Anscheinend geht es um Mode, "Schleier", "Seidentücher", "Hauben", die den Autor "bezaubern", so der Anfang des Texts. Der zweite Satz wechselt das Register: "Mit den Präservativen wird die Mode also jetzt bedeckt [couvert] sein..." (Indirekt kommt mit Aids eine weitere Krankheit ins Spiel.) Das kann dem Macho Sollers, da die Mode ja hochgradig infektiös ist, gar nicht gefallen. Die Lage verschärft sich paradoxerweise mit den moderesistenten Feministinnen, von denen Sollers behauptet, sie hätten, "als Erste das Tragen des mentalen Tschador gepredigt". Sie seien sogar die "wahren Vobereiterinnen der Wege des Islam" gewesen. "Ich begegne euren Umschlagtüchern wieder, euren Strumpfhosen, euren finsteren Verhüllungen." Das laufe auf nichts anderes hinaus als auf die Unterwerfung unter den "metaphysischen Knüppel", mit dem sich die Lust kaschiere.

Der Tschador, ob mental oder vestimentär, hat also offensichtlich mit Gewalt zu tun. Sollte man aber, was die Gewalt angeht, mit Jacques Lacan so weit gehen, von der "prokrusteshaften Willkürlichkeit der Mode" zu sprechen? Eine solche Brachialität sah der französische Psychoanalytiker in einer frühen "Schrift" mit dem bezeichnenden Titel "Die Aggressivität in der Psychoanalyse" (1948) jedenfalls in den "entwickelten Ländern" am Werke, insofern die solcherart gebrandmarkte Mode den "Respekt vor den natürlichen Formen des menschlichen Körpers" dementiere. Der Name des Prokrustes, mythologischer Riese, der seinen Gästen die Gliedmaßen abhackte oder sie auf seinem Amboss streckte, waren sie zu groß oder zu klein für das für sie vorgesehene Bett, fällt nicht zufällig in dieser Schrift, geht es doch in dem Zusammenhang um die "formatierende Funktion" von Bildern und das dazugehörige Negativfantasma des "zerstückelten Körpers". Dazu hat die Mode tatsächlich etwas zu sagen, wenn sie zum Beispiel das Untragbare über die Bühne schickt. Lacan hat gemerkt, dass Mode den Körper nicht nur bekleidet, sondern ihn neu schafft, mit all den Abwegigkeiten, von denen er damals noch nichts wissen konnte.

Wenn nun Philippe Sollers, um wieder auf ihn zurückzukommen, die Kaschierungsideologie, die er "foulardisme" nennt, attackiert, begibt er sich, wie er das gerne macht, in die "Lichtung" des von ihm verehrten Martin Heidegger, der als Erster in der Neuzeit wieder von der "Unverborgenheit", also Nacktheit der Wahrheit gesprochen hat. Es liege doch alles offen zutage wie der "entwendete Brief" in Poes gleichnamiger Erzählung. Man müsse nur genau hinschauen. Und was würde man dann sehen? Die ungehobenen Geheimnisse des "mysteriösen" Philippe Sollers.

Dieter Wenk (2-15)