10. Februar 2015

Linke Avantgarde

 

Es war die große Zeit der Abstraktion in der Bildenden Kunst und der Parabeln in der Literatur, die Wirklichkeit schien weit weg, und doch sagt jede scheinbar abseitige Form (Formlosigkeit) etwas aus über den verdeckten Inhalt. Im französischen absurden Theater sprangen immer wieder Tiere herum, zum Beispiel Ionescos Nashörner, Wolfgang Bauer im österreichischen Graz ließ Schweine verladen (Der Schweinetransport). Man war also zumindest in Ansätzen vorbereitet, als am 14. Februar 1963 zur besten Sendezeit Christian Geisslers Schlachtvieh im 1. Programm des Deutschen Fernsehens als Fernsehspielproduktion des Norddeutschen Rundfunks gebracht wurde.

Gleich zu Beginn gibt es Kühe zu sehen, "manierliche Kühe: Milchschokoladen-Niveau." Dazu Stimmen einer Sprecherin und eines Sprechers, und zwar "in strengem Werbeton". Zum Beispiel: "Es ist geschafft" (öfters), "Die erste Etappe liegt hinter uns", "Die Lebensform freier Menschen!". Dann kommt eine Kuh ins Bild und guckt so traurig. Sprecher: "Mal was Neues probieren?" Sprecher und Sprecherin: "Nein!" Dann kommt aber doch etwas Neues, natürlich ungewollt, zum Beispiel: Wie verhält man sich nach einem Atombombenangriff? Das sind so erste Stimmungsbilder und Reaktionen, die im Folgenden parabolisch gefüllt werden. Die Rindviecher, eben noch auf der Weide, werden im Güterbahnhof "rüde verladen". Gleich daneben wartet ein kleiner Trupp auf den Fernschnelltriebwagen FT 402, der ein wenig Verspätung hat.

Und dann geht es auch schon los. Mit an Bord sind unter anderen zwei Journalisten, ein Pfarrer, ein Betriebspsychologe, zwei Ehefrauen und das Schreibabteilmädchen. Einer, Köhler mit Namen, der bloß ein "Reisender" ist, wird vom Schaffner darauf aufmerksam gemacht, dass er nicht auf seinem Platz sitzt. "Köhler: Ist dieser Platz reserviert? Schaffner: Das nicht. Aber Ihr Platz ist da drüben. (Eine Notbremse ist darüber.) Köhler: Aber da könnte ich plötzlich Lust haben, die Notbremse zu ziehen. Schaffner: Das ist verboten. Köhler: Eben. Lassen Sie mich lieber hier." Das ist witzig, das ist frech, das ist fast anarchisch. Später merken einige Reisende, dass Köhler "von drüben" kommt. Ist das der Grund, dass er so abseits sitzt? Nach der allgemeinen Begrüßung kommt der Hinweis, dass die "Abteile am Ende des Zuges für jeden Reiseverkehr gesperrt" sind. Dann hat das Schreibabteilmädchen seinen ersten Auftritt, es sagt den schönen Satz: "Wo Leute Uniform anhaben, kann nichts schiefgehen. Sagt mein Papa." Der Toningenieur und das Barmädchen hören Schallplatten ("toll") und betrachten magnum-Hefte ("toll"). Dann meldet sich wieder eine Durchsage "mit starken Störungen, bruchstückhaft: Aktion Friedenskrieg vierhundertzwo – Achtung! Aktion Friedenskrieg vierhundertzwo – Auftrieb gleichbleibend und billig und recht und heilsam –" Das geht erst mal so weiter, manches erinnert dabei an Zahnpastawerbung, manches an militärische Übungen. Was geht hier vor? Die Frage wird sich für einige immer tiefer einnisten in einer sich im Laufe der Bahnfahrt steigernden Atmosphäre von Unsicherheit und Bedrohung. Die anderen, es ist die Mehrheit, zu denen natürlich der Pfarrer gehört, pflegen eine Haltung des Urvertrauens gegenüber den Geschehnissen. Es ist nicht unbedingt ein gläubigkeitshalber abgefederter Fatalismus. Es ist das Vertrauen des Kindes gegenüber der Mutter, dass gar nichts passieren kann. Aber da ist ja noch der Vater, der so viel verbieten kann, parabolisch gesprochen. Der Schaffner, auf die seltsamen Durchsagen angesprochen, reagiert, wie man es von ihm verlangt, aber doch auch unfreiwillig witzig: "Ich habe gar nichts gehört. Und selbst wenn: Es kann sich nur um eine kleine technische Störung handeln. Ich habe meine Anordnungen, es ist alles in Ordnung." Ein Reisender, einer der Journalisten, ist nicht ganz zufrieden mit der Auskunft: "Was sind das für Anordnungen? Wie ordnet sich, bitte sehr, in Ihren Anordnungen die Unordnung einer technischen Störung? Schaffner: Ich weiß genau, was Sie meinen, mein Herr. Wie gesagt. Es ist alles in bester Ordnung." Die Dialoge von Christian Geissler sind wirklich ziemlich komisch. Aber das ist kein Slapstick. Mittels der Komik distanziert er falsche Einstellungen. Und am Ende der Fahrt stehen sich die Guten und die Bösen gegenüber. Generelle Frage also: In welchem Zug wollen wir eigentlich fahren? Oder: Wollt Ihr wirklich alles hinnehmen und nicht wissen, was los ist? Am Ende der Reise wird es Ernst. Die hübschen Kühe kommen noch mal ins Spiel. Doch das endet gar nicht lustig.

Zwei Jahre später ist von der parabolischen Didaktik nichts mehr übrig geblieben. Die Erzählung Kalte Zeiten von 1965 ist eine narrative Umsetzung des ein Jahr zuvor geschriebenen Fernsehspiels Wilhelmsburger Freitag. In beiden schildert Christian Geissler den Tag eines noch nicht lange verheirateten Paares, er ist ein junger Bauarbeiter, der gerne ein bisschen mehr Geld hätte, aber nicht möchte, dass seine Frau arbeitet, sie, die früher als Hifsarbeiterin in einer Druckerei gearbeitet hat, kümmert sich um den Haushalt und ihre Ängste um möglichen Zuwachs. Die Erzählperspektiven wechseln fleißig, das Stakkato der Werbetrommel ist beharrlich. Auf ihrem Einkaufsbummel durch die Hamburger City wird Renate Ahlers ein Zettel in die Hand gedrückt, Heute Abend, 20 Uhr, Protestkundgebung vor dem Gewerkschaftshaus. Es spricht der Schriftsteller Christian Geissler. Renate und Jan gehen nicht hin, er muss sowieso noch eine Sonderschicht für seinen Chef, den er eigentlich ganz gern mag, fahren. Man orientiert sich ja gerne nach oben. Und so haben sich Jan und Renate auf der einen Seite und Christian auf der anderen nicht so viel zu sagen.

Geissler wird wenige Jahre später Mitglied der illegalen KPD. Aber er schreibt keine klassische Arbeiter- oder Proletarierliteratur. Das konnte der Leser bereits in Wird Zeit, dass wir leben erkennen, einem Roman, der den Auftakt machte für eine Christian-Geissler-Werkschau, die der Verbrecher-Verlag 2013 in Angriff genommen hat. Der Mitte der 1970er Jahre geschriebene Roman zieht in aufklärerischer Absicht viele Register der Avantgarde-Literatur, bevor diese dann in einer atmosphärischen Umkehr in einer mehr spielerischen Hinsicht der postmodernen Literatur zur Verfügung standen. Zu dem jetzt vorliegenden zweiten Band der Werkschau – Schlachtvieh. Kalte Zeiten – hat Michael Töteberg ein einlässiges Nachwort geschrieben, das sich Christian Geissler als Autor von Fernsehspielen und Dokumentarfilmen widmet. Christian Geissler, der 1928 in Hamburg geboren wurde, starb 2008.

 

Dieter Wenk (2-15)

 

Christian Geissler: Schlachtvieh. Kalte Zeiten. Mit einem Nachwort von Michael Töteberg, Berlin 2014 (Verbrecher Verlag), 246 Seiten, 24 €

 

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