21. Dezember 2014

Psychoanalyse und Architektur

 

In dem Katalog zu der vor Kurzem (5.12.) im Berliner Martin-Gropius-Bau eröffneten Ausstellung "WChUTEMAS – Ein russisches Labor der Moderne. Architekturentwürfe 1920-1930" ist des Öfteren die Rede von psychoanalytischen Methoden speziell des sowjetischen Architekten Nikolai Ladowski. Das ist aus mehreren Gründen interessant. Zunächst fragt man sich vielleicht, was die Freudsche Psychoanalyse überhaupt in der postrevolutionären UdSSR zu suchen habe. War das nicht Dekadenz pur? Ein uferloses Therapieangebot für Hysterikerinnen und verfeinerte Bürgersöhnchen, deren Stunde sowieso geschlagen hatte? Und wie macht man, so könnte eine zweite Frage lauten, die Psychoanalyse für die dritte Disziplin der Bildenden Künste fruchtbar?

Zumindest damals war das Neuland. Die modernen westeuropäischen Architekten wie Adolf Loos, Le Corbusier oder Mies van der Rohe haben nie die Psychoanalyse für ihre Arbeit in Anspruch genommen. Wie kam Freud nach Moskau? Das beantwortet dieser Katalog leider nicht. Was aber schon schwerer zu verschmerzen ist: Die Autoren und Kuratoren machen uns großen Appetit, aber zuletzt weiß der Leser nicht, was das im Einzelnen heißt, mit psychoanalytischen Methoden architektonisch zu arbeiten. Auch die abgebildeten Entwürfe im Katalog oder ein Gang durch die Ausstellung können dafür nicht schadlos halten. Aber zunächst einmal: WChUTEMAS – was ist das? Das waren 1920 in Sowjetrussland staatlich gegründete "Höhere künstlerisch-technische Lehranstalten", die in verschiedene Fakultäten gegliedert waren, auf der einen Seite produktionstechnische (Holz, Metall, Textil, Druck, Keramik), auf der anderen Seite künstlerische (Malerei, Skulptur, Architektur). Katalog und Ausstellung widmen sich ausschließlich dem Bereich der Architektur. Diese Lehranstalten, die 1927 in ein Institut verwandelt wurden, bestanden bis 1930. Danach war sowieso Schluss mit der Avantgarde in der UdSSR. 1934 proklamierte Maxim Gorki den "sozialistischen Realismus" als offzielle Kunstdoktrin des Landes.

Von den architektonischen Entwürfen, die in den zehn Jahren in den WChUTEMAS entstanden, wurde nur das allerwenigste realisiert, sei es, dass die Pläne zu utopisch waren, sei es, dass das Material fehlte. Aber man entwarf nicht einfach so drauf los. Ganz im Gegenteil, Barbara Kreis schreibt in ihrem Katalogbeitrag: "Ladowski ging es um die rationale, gesetzmäßige Erfassung der emotionalen Wirkung des Raums. Die von ihm daraus für die Architekturlehre abgeleitete psychoanalytische Lehrmethode kann wohl als einzigartig in ihrer Art bezeichnet werden." An anderer Stelle ist von Ladowskis Methode der "linken Metaphysik" die Rede. Das klingt viel versprechend, bleibt aber unkommentiert, klar ist nur, dass die Bezeichnung polemischer Natur ist, benutzt von den Konstrukivisten um Rodschenko und Wesnin. Ein weiterer Begriff ist der der "Ratioarchitektur": Dazu Kreis: "Sie sei bestimmt von der Erfassung und Beeinflussung der Gefühlwerte, die von der Wahrnehmung ausgelöst würden. Die Rationalisten sahen das Erlernen objektiver Gesetzmäßigkeiten der Komposition als eine wissenschaftliche Disziplin an, das die subjektive Raumerfahrung aufzuschlüsseln habe."

Eben fiel das seltsame Wort der "linken Metaphysik". Das klingt sowohl nach Fortschritt als auch nach Rückwärtsgewandtem. Vielleicht erinnert man sich an Walter Gropius' Wort von der "Kathedrale des Sozialismus" im Gründungsmanifest des Baushauses von 1919. Für Gropius war die Architektur die Königsdisziplin der Künste, die alle anderen einräumte. Ladowski interessierte eher der Raum und die Architektur als die Form, die diesen Raum am tiefsten zu durchdringen gestattete. Für Ladowski und seine Mitarbeiter, also die, die man Rationalisten nannte, war die Gleichsetzung von moderner Bauform und fortschrittlicher Gesinnung nicht selbstverständlich. Die Ideologie der modernen Architektur sei "konstruktionsunabhängig" und könne "in jeder Konstruktion und mit jedem Material ausgedrückt werden". "Allein der Raum und seine Wirkung, 'weder Ziegel noch Holz', stelle das Grundelement der Architektur dar." Hauptaugenmerk musste also auf die räumliche Wirkung gelegt werden. Auf die Beziehungen von Farbe, Größe und Form, von Oberfläche und Körper, von Dynamik und Statik. Genaugenommen müsste man also von einer psychoanalytischen Betrachtung des Raums sprechen, den die Architektur bildet. Einschließlich des Umraums der Form der Architektur.

Da es der Leser wie gesagt lediglich mit Proklamationen seitens der Autoren zu tun hat, die nicht für die konkrete theoretische Adaptation freudianischer Termini einstehen können, ist man zu Spekulationen eingeladen. Vermutlich hat Ladowski weniger der Ödipuskomplex interessiert. Aber vielleicht hat er mit Kategorien wie "manifest" und "latent" gearbeitet. Oder mit Traumverarbeitungsprinzipien wie "Verschiebung" und "Verdichtung". Vielleicht auch mit Wahrnehmungswechseln in dem Übergang von Individuum zu Masse. Das Ziel solcher Untersuchungen wäre aber gerade nicht die Optimierung von Funktionsabläufen gewesen, die zu erkennen die Produktionskünstler und die Konstruktivisten angetreten waren. Hier scheint Platz für die Metaphysik des Raums Ladowskis, die Erhabenheit der Masse zum Beispiel im Stadion. Wie auch immer diese Untersuchungen ausgesehen haben, so lässt sich festhalten, dass Ladowski einen wahrnehmungstheoretischen Ansatz verfochten hat, und das freudianische Erbe wird wohl darauf zu reduzieren sein, dass es "irgendwie" auch um "unbewusste Wirkungsmächte der Architektur" ging. Das ist ein Aspekt. In einem Zitat Ladowskis scheint die Anleihe bei Freud aber noch weiter zu gehen. Und zwar als Lehrmethode. Ladowski schreibt, nachdem eine Ausstellung einer Kommission zur Zusammenarbeit von Bildhauerei und Architektur stattgefunden hatte: "'... Unter dem Einfluss dieser Ausstellung gingen die studentischen Massen zur Offensive gegen ihre rückständigen Lehrer und deren Methoden über. Diese Offensive zeichnete sich durch einen Sieg an der Studienfront der WChUTEMAS aus, die das von mir vorgeschlagene Programm der psychoanalytischen Unterrichtsmethode und des rationalistischen Blicks auf die Architektur einführten.'"

Man wäre gern dabei gewesen, um ein solches psychoanalytisch unterlegtes Lehr- und Lernlabor kennenzulernen, aus dem dann mittels der "psychoanalytischen Projektierungsmethode" die "Errichtung neuer architektonischer Formen" in Aussicht gestellt werden konnten. Das größte Projekt, an dem Ladowski mit seinen Studenten in diesem Zusammenhang über Jahre arbeitete, war das sogenannte "Internationale Rote Stadion", das aus verschiedenen Gründen aber nie über den Status eines Projektes hinauskam. Ein terminologischer Baustein, sicherlich nicht der unbedeutendste, mit dem Ladowski experimentell gearbeitet hat, war der der "rationalen Energie". Vielleicht war dieser Begriff von Freuds Konzept der Libido motiviert, das ja auch energetisch gefasst ist. Ladowskis Begriff scheint dann aber doch mehr mit psychotechnischer Quantifizierung zu tun zu haben, wenn man liest, dass zum Beispiel herausgefunden werden sollte, "wie viel rationale Energie für die Aufnahme der Bauten des Stadions [s.o.] ein Zuschauer benötigen würde."

Wie abenteuerlich sich das auch anhören mag, so viel steht fest: Architektur war eine Zumutung, die einen auch erschlagen konnte. Traumata durch revolutionäre Bauten? Verdrängungsleistungen des Einzelnen bei der solitären Erstbegutachtung, die sich bei der massenhaften Besetzung aber wieder auflösen konnten? Im Labor, dem "Schwarzen Zimmer" Ladowskis zur Erforschung der psychologischen Wahrnehmungsgesetzmäßigkeiten, muss so einiges durch den Raum geschwebt sein, ohne dass diesem Fluidum eine kompakte architektonische Basis hätte gegeben werden können. Was bleibt, ist ein Rest. Also die Faszination. Und eine unerwartete Konklusion: Die Kuratorin Irina Tschepkunowa: "Nicht die objektive Wahrnehmung des Architekten, die auf bestimmten Gesetzen beruht, sondern die kollektive Wahrnehmung, welche die höchste Objektivität liefert, ist entscheidend."

Dieter Wenk (12-14)

 

WChUTEMAS – Ein russisches Labor der Moderne