18. November 2014

Nr. 161 (von 1.500)

 

Ja, wo sind sie denn? Man blättert in diesem kleinen schmalen Band, aber es gibt sie nicht, die Seitenzahlen. Eine kleine Katastrophe für zitierfreudige Literaturwissenschaftler. Aber da tauchen doch immer diese Illustrationen auf, vielleicht könnte man sich damit behelfen, sehen aus wie Buchstaben, aber so sicher ist das nicht, das f könnte auch eine Trauernde sein, das n ein Dromedar, das q eine Lupe, das x ein Pflaster, das z eine Tangram-Figur. Wie auch immer, es ließe sich denken, die kleinen Texte – oft nur wenige Zeilen lang – anhand der Illustrationen zu notieren, z.B. "Das kürzeste Buch" (k minus 1: also der Text mit dem Titel "Das kürzeste Buch" steht auf der Seite vor dem Buchstaben k, der auch eine Serviervorrichtung sein könnte; man findet diesen Text aber auch bei z+2).

Leider muss der Leser später eine unerträglich lange Bleiwüste hilflos durchqueren. Zwischen dem B und dem (auch noch so extrem fadenscheinig aussehenden) Y stehen 18 (!) Texte ohne Marker. Wie soll das gehen? Aber wir gehen nicht in die Luft. Wir fangen einfach noch mal von vorne an. Und da steht, in dem Buch, dass jedes gedruckte Exemplar von Das Leseleben ein Unikat sei. 1500 Unikate von einem Buch? Die 52 kleinen Geschichten und die zwölf Illustrationen (Buchstaben) sind immer wieder neu gemischt, wozu also Seitenzahlen. Das Buch liegt schön in der Hand, wie ein Brevier, das man bei sich tragen kann. Jeden Text darf man ruhig zweimal lesen. Manche muss man sogar zweimal lesen. Es sind typische Margwelaschwili-Elaborate, teils aus früheren Publikationen, teils neu geschrieben. Wer sich einmal in diese sehr subtile Welt begeben hat, wird nun anders lesen. Er und Sie verzichten dann gerne auf so plumpe Kategorien wie Autor oder Rezipient (dieses Wort klingt so, als ließe sich mit einem Mal der Sinn aus einem Buch etc. ziehen wie die Zigarettenschachtel aus früheren Zigarettenautomaten).

Margwelaschwili macht uns mit einer fantastischen mikroskopischen Welt vertraut, die auf Gedeih und Verderb in unserer Hand als Leser und Leserin liegt. Denn neben den Lesemenschen stellt Margwelaschwili das dramatisch fragile Universum des Leseweltpersonals, das ohne Aktivierung von außen inexistent bleibt. Und in nichts anderem als diesem Hauch des Lesers besteht das literarische Interesse des Para-, Sub-, Intra-, Mikrogeschichten schreibenden, 1927 in Berlin geborenen Autors (ja, ja), der sein Schicksal und das anderer immer wieder gerne in die Hände der Redaktion der rätselhaften Buchweltverwaltung gibt. Was machen Buch- und Verswesen, wenn sie nicht gelesen werden? Liegen sie wie Vampire im Sarg? Können sie erlöst werden? Wollen sie das überhaupt? Liegt die Unsterblichkeitsfantasie der Dichter nicht sehr nah an der Gestalt des Sisyphos, oder werden Stein, Gestalt und Dichter nicht immer wieder vom König Leser ausgewechselt, das erlesene Elaborat wäre dann die andere unwillkürliche Seite eines unvermerkt leicht variierend prozesshaft voranschreitenden minimalistischen Stückes?

Diese kleinen Proben von Margwelaschwili sind so leicht und schwer, wie man will. Aber die literarische Welt hat mit ihm wirklich noch einen Weltentdecker zu vermelden. Aber diese Welt und diese Welten stehen in keinem Atlas. Jeder muss sie selbst durchqueren. Vergesst die Seitenzahlen.

Dieter Wenk (10-14)

Giwi Margwelaschwili: Das Leseleben. Mit Illustrationen von Zubinski, Berlin 2014 (Verbrecher Verlag)

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

amazon