5. Oktober 2014

Entfernte Drastik

 

Die Umstände für mehr als akzeptables Heranwachsen scheinen nicht schlecht. Geld ist da und man muss nicht darüber sprechen. Kein reiner Finanzadel, ein Professor für Kunstgeschichte in der Zweitgereihtheit der Ahnen könnte für Bildungssegen sorgen. Die Schönheit der elterlichen Körper und Gesichter rahmen die Aufzucht ein mit dauernder ästhetischer Vorzüglichkeit. Und da sind die vielen Geschwister inklusive Zwillinge, die keine Langeweile entstehen lassen. Und dann wohnt man auch noch auf einer Insel inmitten einer Stadt. Der Hauptstadt (Helsinki)! Für viele ein Traum. Hier wird ein Alptraum entstehen. Denn die Umstände sind und bleiben die Umstände, und das Leben sucht sich seinen eigenen Weg. Warum nur muss sich Vater Tikkanen einen "Freund des Teufels" nennen. Das macht den Kindern, zu denen der Ich-Erzähler dieses autobiografischen Schlüsselromans gehört, doch nur Angst. Und eine schöne junge Frau hat natürlich andere Sorgen, als sich um die eigene Brut zu kümmern. Verwahrlosung in den besten Kreisen! Nicht ernst nehmen des Erziehungsauftrags. Im Internat nimmt die Begegnung mit den schmutzigen Dingen eher noch zu.

Aber: Diese Verhältnisse werden ja nicht aufgeschrieben von einem willigen Nachfolger eines Karl Philipp Moritz. Die soziale Kalamität, die wie gesagt nichts mit Armut zu tun hat, findet keine Entsprechung in der Eindringlichkeit eines pietistisch geprägten Schreibstils. Der Autor sucht die gute, meist sehr knappe und nicht immer sofort nachvollziehbare Formulierung, und es ist diese "Lust am Text", die auf Autor- und Leserseite einen Abstand zu dem entstehen lässt, von was da die Rede ist. Das ist das Schicksal jeder "guten" Literatur. Der Einsatz ist riskant. Die nonchalante Spöttelei, die der Leser im familialen Rahmen der Vorführung und des Vorgeführtwerdens zu goutieren vermag, wird ohne Bruch weitergetrieben, wenn es um die Erlebnisse des jungen Henrik Tikkanen im Zweiten Weltkrieg geht. Hier wird eine Sicht und eine Haltung einer etwas größeren sozialen Erscheinung implementiert, dass es nur so kracht. Vielleicht rächt es sich hier, dass der Autor zu wenig psychologisch verfährt, wenn auf der einen Seite ein persönlicher Notstand im Krieg aufgezeigt wird, die Gegner aber nicht mehr als Pappkameraden sind oder enthobene Clichés, denen es an der Basis gebricht, damit man richtig draufschießen kann. Und so wirkt das Buch in einem fernen Land gelesen wie Luftakrobatik, die die Härte über die Finesse immer vergessen lassen muss. Als das Buch eines schwedisch schreibenden finnischen Autors Mitte der 1970er Jahre in Finnland erschien, war das Geschrei groß und Tikkanen galt als Nestbeschmutzer. Dem großen Erfolg hat das nicht geschadet.

Brändövägen 8, Brändö. Tel. 35 ist der erste Teil der sogenannten Adressbücher-Trilogie Tikkanens, und es ist das erste Buch, das von Tikkanen auf Deutsch erscheint. Das Aphoristisch-Situative besticht, den Begleittext muss der Leser mitschreiben.

Dieter Wenk (9-14)

 

Henrik Tikkanen: Brändövägen 8 Brändö. Tel. 35, aus dem Schwedischen von Karl-Ludwig Wetzig, Berlin 2014 (Verbrecher Verlag)

 

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