14. September 2014

Reform und Gehäuse

 

Es mag zunächst erstaunen, den Soziologen Max Weber an einem Ort anzutreffen, wo man ihn nicht vermuten würde, gilt er doch für viele als derjenige, der den okzidentalen Rationalismus als Sonderweg der Weltgeschichte beschrieben hat. Wer am Anfang des 20. Jahrhunderts nach Ascona am Lago Maggiore gereist ist, um den Monte Veritá zu besteigen (321 m), tat das nicht, um seine Kenntnisse in Logik und Wissenschaftstheorie aufzubessern. Das Völkchen aus Vegetarianern, Lebensreformern, Naturmenschen und Anarchisten bildete vielleicht die erste Gemeinschaft, die man als Hippies bezeichnen könnte. Man wollte raus aus dem "eisernen Gehäuse" der westlichen Welt und ein Vorbild schaffen für eine Welt des Friedens und gegenseitigen Verständnisses.

Im Frühjahr 1913 und 1914 reist also Max Weber, der 1909 zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gehörte, in die Schweiz ins Tessin, um das Treiben der dortigen Alternativen zu beobachten, "vor allem natürlich Otto Groß und Erich Mühsam. Er [Weber] legt seine anfänglichen Ressentiments ab und beginnt die lebensreformerischen Bewegungen zu verstehen. Es scheint sich so etwas wie eine Empathie zwischen dem Nervenpatienten und den alternativen Lebensweisen zivilisationsmüder Aussteiger anzubahnen." Der Rationalist Max Weber ein Nervenpatient? Am Anfang dieses Handbuchs zu Max Weber, das wie immer in der Metzler-Handbuch-Reihe mit Informationen zur Vita des Porträtierten beginnt, erfährt man, dass Max Weber, im Anschluss an eine tragische familiäre Begebenheit, eine schwere Nervenkrise durchmachte, die ihn jahrelang arbeitsunfähig machte und von der er "nie mehr genesen konnte." Max Weber wird nicht mehr viel Zeit haben, sich mit lebensreformerischen Plänen abzugeben, im Sommer 1914 beginnt der Erste Weltkrieg, Weber tritt seinen Dienst als Disziplinaroffizier der Lazarettkommission in Heidelberg an, 1915 wird er aus dem Dienst entlassen. 1917 beschäftigt er sich mit Verfassungsentwürfen, nimmt im Mai und November des Jahres an den "Lauensteiner Tagungen" teil, organisiert von sozialistischen und pazifistischen Studenten, wo er (wieder) auf Erich Mühsam und Ernst Toller stößt.

Bei all dem zumindest theoretischen Interesse Webers für alternative Gesellschaftskonzeptionen mag es erstaunen, dass ein erster Versuch der Realisierung auf radikale AblehnungWebers stößt: "Schon vor seinem Umzug im Juni 1919 nach München [zur Übernahme eines Lehrstuhls] erschien ihm die Erste Münchner Räterepublik unter Ernst Toller, Gustav Landauer und Erich Mühsam als ,Narrenhaus'", das Rätesystem "mit Blick auf die Berliner Verhältnisse" lehnte er grundsätzlich ab. Er war, anders als der emphatische Mühsam, kein Verfechter des Plebiszits, "da es die Gesetzgebungsarbeit eher behindere und überdies ,nach allen Erfahrungen ein durchaus konservatives politisches Mittel' sei". Ironischerweise hat genau mit diesem konservativen Element der Anarchist Erich Mühsam zu kämpfen gehabt, wie man aus seinen Tagebüchern erfahren kann. Wahr ist aber auch, dass Max Weber drei Typen legitimer Herrschaft unterscheidet, die als "legale Herrschaft kraft Satzung", "traditionale Herrschaft" und als "charismatische Autorität" bekannt geworden sind. Vermutlich hätte Weber nach den Erfahrungen des weiteren Verlaufs des 20. Jahrhunderts – er starb 1920 – zwei der drei Typen nicht mehr ohne Weiteres mit dem dritten (legale Herrschaft kraft Satzung) auf eine Stufe der Legitimität gestellt. Auf der Suche nach der "charismatischen Führerpersönlichkeit" mussten zumal die Deutschen gewisse Rückschläge hinnehmen.

Nach dem kurzen ersten, biografisch gehaltenen Teil des Handbuchs widmen sich die verschiedenen Autoren im zweiten Teil den zentralen Begriffen des Weberschen Oeuvres, zum Beispiel "Arbeit und Beruf", "Ethik", "Kapitalismus", "Macht und Herrschaft" oder "Protestantismus, asketischer". Der dritte Teil stellt "Werke und Werkgruppen" vor, etwa "Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Antike und des Mittelalters", "Religionssoziologische Werke" und Schriften zu "Wirtschaft und Gesellschaft". Weber besaß offensichtlich ein fotografisches Gedächtnis und ein bewundernswertes Informationsverarbeitungssystem. Sehr interessant ist das vierte Kapitel, das zur Diskussion mit Weber einlädt und in zehn Abschnitten fragt, wie aktuell seine Überlegungen heute noch sind. Es ist deshalb auch wichtig, weil es dem nicht professionellen Weber-Leser den Platz anzuzeigen vermag, den man auf dem Steinbruch "Max Weber" zwecks erfolgreicher Tiefenbohrung einnehmen kann.

Dieter Wenk (8-14)

 

Hans-Peter Müller/Steffen Sigmund, Max Weber-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2014 (J.B.Metzler)

 

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