12. September 2014

Formalismus und Möglichkeitsdenken

 

Vor zwei Jahren, im September 2012, erschien der letzte Band der "Geschichte des politischen Denkens" von Henning Ottmann, Professor für Politische Wissenschaft an der Universität München. Er war der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewidmet. Ottmanns Geschichte begann gut zehn Jahre vorher, 2001, mit den Griechen. Die Geschichte des politischen Denkens – ein Ein-Mann-Projekt, eher ungewöhnlich für den Beginn des 21. Jahrhunderts, dessen geisteswissenschaftliche Arbeitsgrundlage durch maschinengestütztes Netzwerk-Prozessieren charakterisiert zu sein scheint. Ottmann arbeitete sich quer durch die Geschichte an Autoren, deren Publikationen und an thematischen Blöcken wie "Der Feminismus" oder "Politisches Denken des Existentialismus" ab. Nicht nur im engeren Sinn politische Texte, auch literarische wurden herangezogen, utopische, seriöse, satirische.

Dieses sich verschiedenen Textgenres öffnende Prinzip wird in der hier vorliegenden Publikation "Zur Geschichte des politischen Denkens", die sich immer wieder auf Ottmanns Werk bezieht, noch einmal formal verschärft. "Denkweisen von der Antike bis zur Gegenwart", so der Untertitel der gewissermaßen paralipomenonischen Schrift, werden hier fast spielerisch in jeweils eigenen Textsorten oder anhand figuralen Beiwerks präsentiert. Einige Beispiele: "Antike Ideenquellen des Republikanismus" werden als Blaupause vorgeführt; "Bürgererfahrung und das politische Denken in der mitttelalterlichen Aristoteles-Rezeption" lesen sich als Kommentar; "Frontispize aus Werken zum politischen Denken der frühen Neuzeit und ihr Bezug zur Emblematik" werden im Titelkupfer anschaulich gemacht; eine "'Geschichte des politischen Denkens en miniature'" wird in der Autobiografie von John Stuart Mills kenntlich gemacht. Auf diese Weise wird anhand von insgesamt elf Analysen ein möglicher Blick auf die Geschichte des politischen Denkens geworfen, der natürlich auch thematisch und formal ganz anders hätte ausfallen können, was der Publikation aber keinen Abbruch tut. Denn sie geht natürlich im Spielerischen nicht auf, sondern versteht sich auch als Lückenfüller, wenn etwa Andreas Urs Sommer in seinem Beitrag zum "Politischen Pyrrhonismus" (qua Rekonstruktion) anfangs feststellt, dass "in den meisten Darstellungen der antiken politischen Philosophie (...) der Pyrrhonismus bestenfalls eine marginale Rolle" spiele.

Aber auch die Lücke zu füllen ist kein Selbstzweck. Warum betreibt man denn überhaupt Geschichte? Sie gibt Anlass zur Reflexion, sie ermöglicht den Vergleich (wie hinkend auch immer), sie vermag für Optionen zu plädieren und sie erlaubt es, eine kritische Haltung zu installieren. Die spielerische Grundierung dieser Publikation ist also kein Selbstzweck, sondern integraler Bestandteil des Aufzeigens von Präsentationsweisen, Verkörperungen und Formalisierungen. Frauke Höntzsch bringt dies in einer Anmerkung auf den Punkt: "Weder ein historischer noch ein philosophischer Zugriff auf die Geschichte des politischen Denkens noch die Kombination beider reicht aus. Aus politikwissenschaftlicher Sicht scheint mir vielmehr entscheidend, das Potenzial der Texte herauszuarbeiten und für die Gegenwart zu rekontextualisieren – nicht um konkrete Antworten auf aktuelle Probleme zu geben, wohl aber um alternative Denkmöglichkeiten aufzuzeigen oder auf Gefahren und Risiken existierender Konzepte hinzuweisen."

Ein Problem solchen Aufzeigens besteht darin, dass zur Geschichte des politischen Denkens (und zur politischen Realität) auch Bestrebungen gehören, "alternative Denkmöglichkeiten" von vornherein zu verabschieden oder zu bekämpfen. Die Inkulturation von "Möglichkeitsdenken" scheint sehr wünschenswert, aber wie diese fruchtbar gemacht werden kann, geht wohl über eine bloße Geschichte hinaus.

Dieter Wenk (9-14)

 

Dirk Lüddecke/Felicia Englmann (Hrsg.): Zur Geschichte des politischen Denkens. Denkweisen von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart/Weimar 2014 (J.B.Metzler)

amazon