11. Juli 2014

Von der "Wortung" zu den Wörtern

 

Als die ersten französischen Kriegsverletzten in Braffy eintreffen, nehmen die Schriftsteller André Gide und Jean Schlumberger die Gelegenheit wahr, die Frontsoldaten im Lazarett über ihre Kriegserlebnisse zu befragen. Gide, dem nichts über Authentizität und Aufrichtigkeit geht, wird tief enttäuscht. Statt persönlicher Erfahrungen geben die Soldaten bloße Zeitungsclichés von sich. Mehr noch: sie akzeptierten dieses Diktat, hatten sich ihm unterworfen, sodass die Zeitungsformeln die Soldaten noch nicht einmal verrieten. "Keiner von ihnen", so Gide, "war in der Lage, die kleinste ursprüngliche Reaktion zu vollziehen." Wie so oft generalisiert Gide diese Erfahrung aus der Frühzeit des Ersten Weltkriegs: "Die meisten Sätze, derer wir uns bedienen, um unsere Gefühle auszudrücken, können mit ungedeckten Schecks verglichen werden."

Von gedeckten Schecks ist bei Ernst Jünger die Rede, gerade weil er den Gide'schen Satz unterstrichen hätte. In Jüngers zweitem Buch über seine Erlebnisse als Frontsoldat, Der Kampf als inneres Erlebnis (das in diesem Jünger-Handbuch im hier maßgeblichen Unterkapitel "Sprache" fälschlicherweise als Der Krieg als inneres Erlebnis zitiert wird), liest man Überlegungen zum Einfluss des Kriegs auf die Sprache und das Sprachbewusstsein der Soldaten, in erster Linie der Frontsoldaten. Der echte Frontsoldat hat das Papageienhafte hinter sich gelassen und kommt beim "Ursprünglichen" an: "Ihre Sprache war kurz, von Schlagworten beherrscht, zerhackt und zerrissen wie die Feuerstöße ihrer Maschinengewehre, die Worte geprägt und voller Erdkraft. Überall, wo Männer im Ursprünglichen sich finden, entstehen solche Sprachen." Aus dieser regressiven Errungenschaft wird der Mythos des Frontsoldaten geboren.

Der Autor Ernst Jünger kann aber nicht selber an "solche(n) Sprachen" teilnehmen, da er als Medium einen anderen Auftrag hat. Er wird als Prophet des Ursprünglichen, des Mythischen, des Magischen, all dessen, was sich der normalen, alltäglichen Erfahrung entzieht, auftreten, er wird von Erlebnissen sprechen, die nur wenigen zugänglich sind, und er wird es verstehen, eine auktoriale Haltung zu zelebrieren, die von den Jüngern anerkannt und fantasmatisch ausgekostet wird. Dieses Auskosten ist denkbar weit entfernt vom Goutieren etwa der Ironie eines Thomas Mann. Dieser charakterisiert Jünger in einem Brief vom Ende des Jahres 1945 als einen "Wegbereiter und eiskalte(n) Genüßling des Barbarismus". Noch deutlicher wird der Philosoph Karl Löwith in seinem Bericht Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933: "Er [Martin Heidegger] war und blieb Nationalsozialist, ähnlich wie es auch E. Jünger ist, am Rande und in der Vereinzelung, die aber keineswegs wirkungslos ist."

Das ist die eine, skandalöse Seite des "wahrscheinlich umstrittenste(n) deutsche(n) Schriftsteller(s) Ernst Jünger" (so Norbert Deitka): Der Versuch des politischen Publizisten Ernst Jünger der 1920er Jahre, den Nationalsozialismus immer wieder rechts zu überholen, wirft auch heute noch Fragen auf, die sich aus dem bloßen Rückblick nicht beantworten lassen. Hier wird man vermutlich auf bewusstseins- und haltungsmäßige Gemengelagen verwiesen, die sich der Verstehbarkeit durch Sprache radikal entziehen. Aber vielleicht ist es ein solcher entsetzlicher Kern, der, camoufliert in den sich anschließenden Phasen der Jüngerschen Autorschaft, sich bemerkbar macht als faszinierende Irritation oder etwas in der Art. Und das wäre die andere Seite des Umstrittenseins, die Affirmation, vielleicht sogar die Notwendigkeit der Affirmation eines solchen Bereichs, den verführerisch oder vermeintlich verführerisch immer wieder anzudeuten das absolute Recht eines Autors sei.

Dass es heute ein Handbuch zu Ernst Jünger gibt, weist darauf hin, dass die Zeiten der Dämonisierung (in beide Richtungen: von Jünger aus und hin zu Jünger) vorbei sind. Sein Werk hat begonnen, historisch zu werden. Das heißt, dass der Leser, vermutlich ganz unbewusst, das Jünger'sche Werk "stereoskopisch" lesen wird. Man geht darin nicht mehr auf wie früher, man spricht nicht mehr, wie noch Robert Petsch in den 1930er Jahren, von der "einzigartige(n) Kunst der Wortung bei Ernst Jünger". Und so ist der Duktus dieses Handbuchs auch nicht der des "magischen Realismus", sondern natürlich der einer distanzierten Sachlichkeit, die nicht das Wichtige bloß in Aussicht stellt. Wie immer bei den Metzler'schen Handbüchern ist auch dieses in die Großkapitel Leben – Werk – Wirkung eingeteilt. Die heute vielleicht faszinierendste Seite des Jünger'schen Werks liegt vielleicht gar nicht so sehr im Gehalt, als im kontinuierlichen Willen des Autors, diesen Gehalt, oft auch ohne das Ins-Vertrauen-ziehen des Lesers, zu transformieren. Jünger arbeitet seriell, nicht so sehr punktuell. Er ist der Autor von Fassungen, weniger von abgeschlossenen Werken, von In Stahlgewittern existieren 7 (manche sagen: 8) Fassungen, Das abenteuerliche Herz kann ohne die Angabe des Untertitels oder des Jahres gar nicht zitiert werden, so unterschiedlich sind die beiden Fassungen. Die beiden Werkausgaben, die Ernst Jünger selbst veranstaltet hat, sind allerdings keine historisch-kritischen Ausgaben.

Nicht die uninteressantesten Lektüren sind die, von denen der jeweilige Autor keine Ahnung haben konnte, weil die Bezugnahmen, ohne sein Wissen, ex post erfolgen. 1995 stellt die Künstlerin Katharina Sieverding, einen Titel eines Zeit-Artikels aufnehmend, die fotografische Arbeit Deutschland wird deutscher vor. In einer publizistischen Arbeit aus den späten 1920er Jahren behauptet Ernst Jünger, dass "Deutsch" ein Wort sei, "das nicht gesteigert werden kann". Hier kracht es ordentlich zwischen dem Nationalisten Ernst Jünger und dem Versuch der Konzeptualisierung einer Künstlerin. Und vielleicht hat David Lynch die Lektüre von Jüngers Gläserne Bienen auf die Idee mit dem abgeschnittenen Ohr in Blue Velvet gebracht. Es ist wohl dieses eminent potentiell-relationale Element im Werk Jüngers, dass die Lektüre auch heute noch ergiebig werden lässt.

Dieter Wenk (7-14)

 

Matthias Schöning (Hrsg.): Ernst Jünger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart-Weimar 2014 (J.B.Metzler) 

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