2. Juli 2014

Weltgeist in Ketten

 

Zwischen Band 5 und Band 6 der vom Verbrecher Verlag herausgebenen Tagebücher des Anarchisten Erich Mühsam klafft eine zeitliche Lücke von zweieinhalb Jahren. Vier Hefte sind verschollen, die letzten Kriegsjahre und die Zeit der (kurzen) Räterepublik in München, an deren Ausrufung Erich Mühsam entscheidenden Anteil hatte, bleiben für den Leser unkommentiert. Nach dem revolutionären Intermezzo hat Bayern mittlerweile eine "sozialistische" Regierung mit einem SPD-Ministerpräsidenten.

So schlecht, könnte man meinen, ist das nicht nach den Kriegsjahren. Aber es liegt auch eine Revolution dazwischen, die Novemberrevolution, und an ihr scheiden sich die verschiedenen politischen Geister, und der Leser kann sicher sein, dass sich Erich Mühsam nicht auf der Seite von Noske und Co. befindet, den Einsatz von Freikorps, Reichswehrtrupps und die Etablierung von Standgerichten beklatschend. Denn Mühsam wird selbst Opfer eines standgerichtlichen Verfahrens, das ihn wegen "Hochverrats" zu 15 Jahren Festungshaft verurteilen wird. Dabei hat er noch Glück im Unglück, denn anders als viele seiner Umsturzgenossen ist er zur Zeit der Säuberung nicht in München, sondern in Untersuchungshaft im Zuchthaus Ebrach. Die "Weißgardisten" schlagen in München brutal zu, terrorisieren, töten, die Regierung beruft sich dabei auf die Regelungen der Kriegszustandsgesetze, und beide Seiten, auf der einen die Sozialdemokraten, auf der anderen Anarchisten und Kommunisten, werfen sich gegenseitig Illegitimität oder Usurpation vor. Aber auch Anarchisten und Kommunisten stehen ideologisch auf verschiedenen Terrains: Bakunin wird gegen Marx ausgespielt und umgekehrt; Mühsam, der Ende 1919 Mitglied der KPD wird, merkt schnell, dass er dort nichts verloren hat.

Dieser Mann, der Eindruck drängt sich auf bei der Lektüre der Notate, kann durch nichts in seinem Gesinnungselan gebremst werden. Auch nach der Niederschlagung der Münchner (oder bayrischen) Räterepublik gibt Mühsam nicht auf. Gerade die negativen Daten sind Wasser auf die Mühlen der Revolution oder gar der Weltrevolution. Die Hauptverbündeten: Armut, Not, Arbeitslosigkeit. Und für Mühsam kann kein Zweifel daran bestehen, dass nach dem Weltkrieg die Weltrevolution kommen muss. Und das ist der Tenor: "Umschlossen von engen kahlen Gefängnismauern, verurteilt zu einem Leben voll harter Entbehrung, voll Unsauberkeit und Armseligkeit, höre ich aus den Zellen meiner Gefährten fröhliches Pfeifen und Singen. Hinter den dicken Mauern dieses Verließes liegt die Welt, an deren Schönheit, Freiheit und Glück zu arbeiten auch mir wieder gewährt sein wird. Ich glaube an das Glück der Menschheit durch die Revolution. Der Name des Menschheitsglücks aber ist Sozialismus." (aus einer Eintragung vom 27.4.1919)

Die Menschheit oder die Völker oder das Volk aber brauchen Mediatoren, zu denen Erich Mühsam sich zählt. Das Volk lässt sich täuschen, es ist blind, es muss also von denen, die die historischen Prozesse durchschauen, in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Gemeinsam kann dann der Feind (das Kapital, das Militär, die Sozialdemokratie, der Parlamentarismus) bekämpft werden. Wichtigstes Bindeglied zwischen Volk und Führern sind die Räte, die die Verbindung zwischen oben und unten kanalisieren. Der Glaube an die Güte des Volks ist durch und durch rousseauistisch, bloß dass an die Stelle der volonté générale die Räterepublik tritt. Und wenn das Volk sich nicht so verhält wie es "eigentlich" müsste, hat man leicht Erklärungen zur Hand. In einer Notiz vom 18. Mai 1919 heißt es zum Beispiel: "Ein Plebiszit, mit dem die Herrschaften spielen, würde wohl auf Ablehnung herauskommen, weil da ja, genau wie bei Wahlen, nicht die Meinung des denkenden Volkes, sondern die Macht der kapitalistischen Einflüsse auf die Mehrheit der Indifferenten zum Ausdruck käme." Aus Erklärungsweisen wie diesen sieht man, wie der Anarchist dazu verdammt ist, Daueroptimist zu sein und zu bleiben. Die Verhältnisse sind schuld, nie die Substanz des Volks. "Anständigkeit" ist für Mühsam eine anthropologische Kategorie. Von daher die Pflicht zur Befreiung, wenn die positive Grundeigenschaft verdeckt ist.

Im Zuchthaus Ebrach liest Mühsam Zeitungen. Er stößt auf Meldungen, die er interpretiert, am 4.6.1919 scheint etwas in der Luft zu liegen: "Frankreich vor der Revolution! Alldeutschland zittert in festlicher Erwartung. 4-500.000 Arbeiter sollen allein in Paris streiken. (...) Auch in Italien sollen große Streikbewegungen vor sich gehn, und in England droht der sogen. Dreibund der Arbeiterorganisation mit dem Generalstreik (...) Die Weltrevolution zuckt in den Windeln." Das Telos ist klar, auch wenn die Formulierung des letzten Satzes vielleicht nicht ganz glücklich scheint. Dem Messianischen der zu erwartenden Weltrevolution gesellt sich ein Zug der Auserwähltheit auf Seiten des Revolutionärs Erich Mühsam. Am 9.6.1919 liest man etwa: "Nun Landauer tot ist, werde ich der Einzige sein, der den Weg der Revolution klar erkennt." Am 15.7.1919: "Vielleicht bleibt es mir vorbehalten, den sittlichen Sieg des Bolschewismus der revolutionären Welt und mit ihr auch den Bolschewismus selbst aufzuzeigen und dazu beizutragen, daß in den bevorstehenden Endkämpfen der Weltrevolution der Bruderkrieg zwischen den Revolutionären selbst vermieden wird und der Geist des Bolschewismus sich als das versöhnende Element, als das Element der Liebe und der Gerechtigkeit über alle Orthodoxie und Voreingenommenheit bewähren kann."

Vom "endgiltigen Sieg" der Weltrevolution als notwendiger Bewegung der Geschichte lässt Mühsam nicht ab. Da Mühsam selbst den revolutionären Furor aufgrund seiner Inhaftierung nicht unterhalten kann, muss er an Stellverteterfiguren denken; wer nicht selbst Jesus sein kann, kann immerhin als Jesus-Macher agieren, aber auch das scheinen die Gefängniswirklichkeiten zu verunmöglichen, die Gefangenen werden erneut getrennt, der Mühsamsche Jünger geht verloren. Im Tagebucheintrag vom 3.9.1919 liest man: "Mein Ehrgeiz war, grade diesen Menschen in persönlicher dauernder Einwirkung zu einem, vielleicht zu dem Revolutionär zu machen, auf den das Land wartet, den es braucht, der es retten soll. Ernst hat alles Zeug, das zu werden, vor allem Begeisterung, Hingabe, Charakter. Ich lese eben wieder Bakunins Lebensgeschichte. Da ist das Vorbild, dem auch ich nachstrebe mit aller Wucht meines Wollens. Ein Psychiater würde mich jetzt wohl als Monomanen bezeichnen. Ich kann und mag nichts andres mehr im Herzen und im Hirn haben als Revolution."

Und es ist ja vielleicht wirklich nicht Selbstüberschätzung, die ihn leitet. Einer, der wie Mühsam an den Satz glaubt: "Erziehung ist alles", scheint alles noch vor sich zu haben. Das ist sein moderner Zug; seine rousseauistische tabula-rasa-Fantasie ("Der Mensch wird frei geboren...") ist ein tabula-plena-Fantasma. Dieser Vereinigungswille trennt ihn von uns heute. Aber diese Dinge zusammenzudenken war ein notwendiger Zug seiner Zeit.

Dieter Wenk (6-14)

Erich Mühsam, Tagebücher, Band 6, 1919, hrsg. von Chris Hirte und Conrad Piens, Berlin 2014 (Verbrecher Verlag)

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

amazon