4. Juni 2014

Kurz und... gut?

 

Man muss es nicht gleich eine kleine Sensation nennen, aber es ist erstaunlich, dass in einer so marginalen Textgattung wie der des Aphorismus die Publikation einer Anthologie so schnell vegriffen ist, dass eine Neuauflage nötig scheint. Vier Jahre nach der Erstveröffentlichung erscheinen also die Neuen Deutschen Aphorismen erneut, und zwar tatsächlich in einer erweiterten und überarbeiteten Neuauflage. Allerdings wurden nicht die einzelnen Aphorismen einer Überarbeitung unterzogen, sondern das Textkorpus. Nur etwa 500 Aphorismen der Erstauflage haben es in die Zweitauflage geschafft mit gut 1300 Aphorismen, und das ist vielleicht noch erstaunlicher als die Tatsache der Neuauflage selbst. Denn wenn das Buch so gut läuft, warum wirft man dann über die Hälfte des Materials wieder über Bord? Waren die Aphorismen vielleicht doch nicht so gut? Hielten einer weiteren Prüfung der Herausgeber nicht stand?

Das Ziel von Alexander Eilers und Tobias Grüterich ist zu zeigen, dass der Aphorismus nicht tot sei. Ein Blick in das Bibliografieverzeichnis der Anthologie beweist, dass das Aphorismenschreiben sehr lebendig zu sein scheint. Wer schreibt? Vor allem Akademiker, und meist liegt nicht nur eine Publikation vor, sondern gleich eine ganze Reihe. "Der Auswahl liegen ca. 240.000 Aphorismen zugrunde", schreiben die Herausgeber.

1978 erschien im Reclam-Verlag eine Anthologie mit dem Titel Deutsche Aphorismen. Der Herausgeber Gerhard Fieguth nahm nur sehr bekannte Dichter und Schriftsteller darin auf. Von Lichtenberg über Novalis, Nietzsche, Kraus bis zu Helmut Arntzen und Dieter Leisegang. Man wird den Eindruck nicht los, dass die dort veröffentlichten Aphorismen entweder einfach viel besser sind als die der Neuen Deutschen Aphorismen oder gewissermaßen als Kopiervorlage dienten für die späteren. Bei der Lektüre der meisten der Neuen Aphorismen glaubt man sich an einen Nierentisch versetzt. Aphorismen wie aus einer anderen Zeit. Aber nicht unzeitgemäß im provozierenden Sinn wie bei Friedrich Nietzsche, sondern altmodisch, überkommen. Aphorismen schreiben so, wie man Karten spielt, ein Zeitvertreib. Diese Aphorismen vermögen nicht von ihrer Dringlichkeit zu überzeugen, warum sie geschrieben wurden. Manches ist schlicht abwegig. Der Studienrat Arthur Feldmann schreibt zum Beispiel: "Eine Missgeburt wird angesehen, als hätte sie nicht der liebe Gott, sondern sie sich selbst erschaffen." Warum die unpersönliche Form wählen "wird angesehen"? Wenn ich in der teratologischen Abteilung des Berliner Medizinhistorischen Museums an der Charité stehe, bringe ich meine eigenen Assoziationsglieder mit. Das Kreuz mit dem Aphorismus, ob gut oder schlecht, scheint darin zu liegen, dass er so besserwisserisch klingt. Und diesen Zug bekommt man aus seiner Kürze nur schwer heraus. Wenn man will, ist das seine Tragik. Wer dieses Kreuz tragen will, der trage es.

 

Dieter Wenk (5-14)

 

Alexander Eilers, Tobias Grüterich (Hrsg.): Neue Deutsche Aphorismen, erweiterte, überarbeitete Neuauflage, Dresden 2014 (edition AZUR)

 

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