2. Januar 2004

Plassans, wo alles begann

 

Vorworte von Autoren zu ihren eigenen Werken sind meist ein Leckerbissen für spätere Generationen. So verdanken wir etwa Goethe in seinem Vorwort zu seiner Autobiografie die Einsicht: „ …ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.“ In diesem Satz steckt schon die ganze Verdrehung Rimbauds. Aber dann gibt es doch immer wieder Autoren, die nicht von Dichtung und Wahrheit sprechen, und die versprechen, den notwendig anderen Teil des Ich mathematisch zu präzisieren.

Zola vollzieht mit einer ganzen Gesellschaft anhand einer Familie, was Goethe nur mit einem kleinen menschenähnlichen Wesen gelang: Ein literarisches Zuchtprodukt, das mit der Wirklichkeit verschmilzt. Im Vorwort zu diesem Werk, dem der Autor den „wissenschaftlichen“ Titel „Die Ursprünge“ gegeben hat (der erste Band des aus 20 Romanen bestehenden Rougon-Macquart-Zyklus), stellt er in Aussicht, „den Faden zu finden und zu verfolgen, der mit mathematischer Genauigkeit von einem Menschen zum anderen führt.“ Dies ist durchaus nicht ironisch gemeint, auch wenn es den einen oder anderen erheitern mag, auf eine Metapher zu stoßen, die vermutlich die Großmutter der Mathematik ist. Bevor man diesen Faden zu sehen kriegt, muss Zola noch zwei Probleme lösen, aber da es sich dabei lediglich um die Verknüpfung von Temperament und Umwelt handelt oder anders gesagt um die wechselseitige Abhängigkeit von Genetik und Milieutheorie, vergessen wir als Leser schnell diesen wissenschaftlichen Nebenschauplatz und freuen uns auf den roten Faden, der aus Blut, Nerven und dem bösen Nachbarn besteht.

Zola ist Gott sei dank kein auf den neuesten Stand gebrachter Lavater, und alles, was wir an Physiologie, „Blutsübeln“ und organischen Erstschäden literarisch serviert bekommen, ist romanesk eingesät in die bekannte Mehrfelderwirtschaft aus Romantik und Satire. Spätestens nach dem ziemlich am Anfang stehenden Satz: „Unter dem Wintermond erinnerte dieses Meer von Masten, die in dem eisigen Schweigen regungslos, wie erstarrt in Schlaf und Kälte, dalagen, an die Toten des alten Friedhofs“ hat man alle mathematischen Sehnsüchte oder Ängste zwischen den Zeilen begraben. Denn die Literatur hat ihre ganz eigene Fadenhaftigkeit, wo man keine imaginären Zahlen kennen muss und das Imaginäre wie ganz von selbst den Text voranschreibt und -liest. Das ist das eigentliche Glück von Texten, wie böse auch die Mechanismen sind, die den Prozess vorantreiben. Selektion heißt das Prinzip, das den Text wie das Leben weiterbringt. Auswahl, in jeder Hinsicht, Verstärkung, Vergröberung, Forcierung, Sublimierung. Das reicht aus, um einen ganzen Familienstammbaum ins Leben zu rufen, der das zweifelhafte Glück hat, stämmiger zu sein als andere Familien. Geld- und machtgieriger, ins Bürgerliche gewendet.

Für diese ausführliche romaneske Dokumentation apokalypsefördernden Verhaltens hat Léon Bloy Zola gehasst. Obwohl beide gleichermaßen den Bürger lieber heute als morgen in der Hölle schmoren sehen wollten. Bloy wollte den Bürger – ein Vorwortwunsch – für immer zum Schweigen bringen. Der Fehler Zolas in den Augen Bloys bestand darin, dass er ihn zum Reden brachte. Dafür gibt’s zwar nur Silber, aber wie sonst hätte man so viele Bücher schreiben können, die mehr als nur den eigenen Tag verbuchen.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Emile Zola, Das Glück der Familie Rougon</typohead>