11. April 2014

Okapi, Giraffe oder Einhorn?

Mathias Gatzas Debütroman »Der Schatten der Tiere« 

 

Das Okapi entstammt der Spezies der Giraffenartigen, ähnelt auf den ersten Blick in Körperproportionen und Fellfärbung jedoch kaum der Giraffe. Neugeborene Okapikälber besitzen eine kurze Stehmähne, die später verschwindet und nur kurz auf die Verwandtschaft zur Giraffe deutet. Obwohl wir in der Moderne denken, alles zu wissen, ist das Okapi in der Wildnis weitgehend unerforscht.

Wie das Okapi ist Mathias Gatzas Debütroman Der Schatten der Tiere eine mystische Spezies. Gatzas Protagonist ist ein verarmter Verleger, ehemaliger Philosophiestudent, Alkoholiker und Dauerkartenbesitzer für den Berliner Zoo. Er erzählt aus der Ich-Perspektive. Sein Freund Braun »(obwohl das nur so ein Wort ist)« ist Mathematiker, hat sich allerdings längst auf etwas zu bewegt, dass mit Zahlen nichts mehr zu tun hat. Ein mysteriöses Staudammprojekt in Bolivien verschlingt ihn. Er meint, dass seine Geschichte vor Jahrtausenden angefangen habe, als der erste noch nicht ganz aufrecht gehende Affe eine vergorene Frucht aß. Eines Tages wird Braun ermordet in seinem Haus in Norwegen aufgefunden. Blanker Hass hat gegen ihn gewütet, sein Körper wurde durch Tiere grausam entstellt.

In vielfältigen Dimensionen kreiert Gatza von der Logik entrissene Sachverhalte, negiert doppelt und zerstört inhaltlichen Gehalt. Der Protagonist nickt und sagt nein. Hélène, Brauns Ehefrau, vergleicht die Anhänglichkeit einen Mannes mit der Klebrigkeit von Poxomondron. »Was ist das?« fragt sich dann sowohl Hélène als auch der Leser um dann keine Antwort zu kriegen, sondern ein »Ich meine ja nur, wie eines«. Auch die Suchmaschine des Internets spuckt für das fremde Wort keine Bedeutung aus.

Gatzas Charaktere täuschen Kommunikation vor. Sprache entsteht immer nur aus der Erwartungshaltung des Gegenübers oder aus einer psychischen Labilität. Größtes Problem des Verlegers ist, dass sein Leben nicht von der Sprache abhängig sein will, es aber immer ist. Mit Hélène begibt er sich auf die Suche nach Antworten über Brauns Tod und verliebt sich in sie. Hélène war die »Kati Witt auf dem Klavier«, musste ihren Beruf jedoch wegen einer Handverletzung aufgeben. Wirklich Erlebtes wird ständig durch surreale, phantastische Einschübe unterbrochen. In  einem Vereinslokal einer Gartenkolonie lernt der Erzähler Roswitha kennen, die in seiner Erinnerung schwarz-weiß ist, aber rosa Cowboystiefel trägt. Noch wirrer wird es, wenn etwa ein Weihnachtsmann auf der Flucht vor Gartenzwergen den Himmel empor klettert.

Gatza war Lektor und Verleger deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. 2003 beendete er sein Dasein in der Verlagsbranche und wurde Schriftsteller. In der Schatten der Tiere kreiert er eine hoch komplexe Sprache und Figurenkonstellation. Zentrale Themen des Romans stellen erkenntnistheoretische sowie existenzielle Fragen. Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Was ist Realität und woran erkennt man die Einbildung, wenn man nie mit Sicherheit sagen kann, ob man sich die Einbildung nicht einbildet? Wird die Bedeutungslosigkeit zur Bedeutung, denn warum besitzt der Argusfasan Ornamentaugen auf der Schwingfeder?

Durch etliche Mittel wird der Zeit getrotzt. Nach einem Kuss mit Hélène muss Zeit verstreichen, um einen erneuten Kuss moralisch vertretbar zu machen. Im niederländischen Zandvoort schlafen  Hélène und Gatzas Protagonist miteinander. Wie viel moralische Zeit verstrichen ist, ist nicht erkennbar. Jung und Alt treten gegeneinander an. Tochter Noomi wird zur Frau, Brust und Akne entwickeln sich und sie denkt sich mit einem Sohn in die Zukunft. Der Erzähler schreibt Kolumnen über Tiere sowie Gatzas und sein Buch. »Das Buchvorhaben soll viele Wörter in kurzer Zeit ausspucken, man kann ja so viel schreiben wie man will«. Der Ren schmeckt köstlich. Schon wieder Vergangenheit, denn ein Geschmackurteil ist nur möglich mit einem Vergleich. Die Originalübertragung der Mondlandung in Echtzeit wird wiederholt gesehen. Becketts Warten auf Godot wird verrissen, dem Verleger ist »immer noch oder schon wieder kotzübel, ist auch egal«. Erzählt wird anachronistisch, oft weiß der Leser nicht was analeptisch, was in der Gegenwart spielt. Keine einzigen Sachverhalte sind sicher. Kannten sich Hélène und Erzähler schon vor Brauns Tod? Sind Braun und Erzähler gleiche Person, denn warum erscheinen Fotos von Noomi in Brauns Holzhütte?

Paradox scheint wie so vieles auch, dass der Verleger Psychotisierungen verachtet und sich weigert, Brauns Vergangenheit zu rekonstruieren, dann aber aus Brauns Geschichte erzählt. So wird seine Kindheit unter der Freud’schen Lupe als Mangelkindheit beschrieben.

Überall begegnen dem Erzähler außerdem Tiere. In Brauns Taufkirche als Mischwesen, im Essen als Milchlammrippchen oder auf Puma T-Shirts. An einer Stelle erzählt der Verleger aus seiner Kindheit über den ersten Kontakt mit dem Schatten. Er malte mit Filzstiften und entdeckte wellige Linien, die er auf eine Geisterhand zurückführte. Der Schatten der Tiere spukt überall und verweist auf die Sterblichkeit, der es zu entrinnen nicht gelingt. Einzige Zufriedenheiten empfindet er, indem er Dinge tadelt. Vor allem durch intertextuelle Bezüge, die mal mehr, mal weniger versteckt sind, umkreist er die Weltfremdheit der Literatur und schafft ideenreiche Beleidigungen der intellektuellen Elite. Die Theaterszene wird mit »Foyer-Prosecco verglichen, der schon im Glas nach Erbrochenem riecht«.

Gatzas Sprache ist poetisch und präzise. Genau hier liegt aber auch das Problem. Immer geht es um Virtuosität. Sein Ziel von der Aufhebung der Zeit und der Realität wird auch auf der linearen Ebene der Schrift erreicht, dennoch wirkt sein Roman zu akribisch und zu komplex. Besonders Brauns nihilistisches »Urwald-Geschreibe« seiner Tagebücher langweilt, da sich zu stark im Selbstmitleid gesuhlt wird. Auch die im Buch fortgeführte Kritik der Gefühlsdarstellung wirkt durch zahlreiche Kitsch-Metaphern paradox. Wenn sie eine Ironisierung verfolgen, sind sie zu inflationär gebraucht. Sätze wie »Eine ziemlich dumme Worthäufung, aber das lebensmüde Parfümfläschchen ließ sich immerhin retten« zeugen von Humor, durch die das Buch manchmal über sich hinaus wächst.

Letztendlich schafft Gatza eine Machtlosigkeit der Spezies Mensch gegenüber dem Metaphysischen zu statuieren. Mit einer verstörenden Selbstverständlichkeit wird stets die Vision einer Unkontrollierbarkeit behandelt. 

 

Wenke Bruchmüller

 

Mathias Gatza: Der Schatten der Tiere, 2008.

(Rowohlt-Verlag, 384 Seiten, 19,90 €) 

 

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