6. Januar 2014

Halbzeit

 

Es gibt wahrscheinlich nichts Absurderes, als in Kriegszeiten Anarchist zu sein. Ein Gehirn, das an Auflösung denkt, muss zur Kenntnis nehmen, dass auch die Heimatfront hart wird, weil der Feind sich nicht im Inneren befindet, sondern draußen. Wenn aber der Anarchist selber noch verbürgerlicht, dann tendiert die Lage zur Groteske. Natürlich hat auch Erich Mühsam nicht mit einem sich so in die Länge ziehenden Waffengang gerechnet. Aber so sitzt er 1916, seit einigen Monaten verheiratet, mit einer kleinen, ziemlich vertrackten Erbschaft, in München in seiner neuen Wohnung und liest Zeitungen. Tag für Tag. Woche für Woche. Unerträglich für einen "revolutionären Pazifisten".

 

Aber was ist ein revolutionärer Pazifist? Das weiß wohl Erich Mühsam selbst auch nicht so genau. Wie gefährlich es ist, in Kriegszeiten gegen den Krieg, für ein Niederlegen der Waffen der deutschen Soldaten öffentlich zu sprechen, das sieht Mühsam am Beispiel Karl Liebknechts, der nach einer entsprechenden Demonstration inhaftiert und in einem anschließenden Prozess u.a. zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt wird. In einem Tagebucheintrag spricht Mühsam von "eigenen Plänen", aber noch nicht einmal dem Tagebuch vertraut er sein Geheimnis an. Dann wieder kommt er aus der Deckung hervor und plaudert über Konspiration. Es ist immer eine Verschwörung der Guten gegen die Bösen, die den Krieg angefacht haben. Der Anarchist bemüht den Geist und macht sich zum Verteidiger der "Kulturwerte". Im Tagebucheintrag vom 31.1.1916 liest man: "Mit Wedekind und H. Mann habe ich eben telefonisch gesprochen. Ich will sie gewinnen für eine Verständigung der Geistigen zu einer Parallelaktion mit der von den Wissenschaftern vorzunehmenden Kundgebung, dahin zielend, daß die Fortsetzung [?] des Kriegs zu einer derartigen geistigen und seelischen Verblödung der Völker führen muß, daß alle Kulturwerte dabei verschwinden müssen."

 

Er meint es ja gut, aber das sieht nach Revolution von oben aus, von einer Elite, die im Namen der Totalbestimmung "Mensch" spräche. Aber Mühsam erfährt es jeden Tag wieder, dass die "Geistigen" sehr uneins sind, und nicht jeder "Wissenschafter" lebt in unmittelbarer Nähe zum Geist. Und wäre eine "Kundgebung" schon die ganze "Parallelaktion"? Aber dieses Tagebuch ist nicht ein Tagebuch der Verschwörung, sondern eines des Kriegs. Mühsam geht sehr ins Detail, das ist für den heutigen Leser nur schwer nachvollziehbar, aber das eigentliche Drama ist immer präsent: das massenhafte Verheizen und Abschlachten von Menschenmaterial. Verdun, Douaumont, Somme – Namen, stellvertretend für das Grauen des Krieges. Die Versorgungslage auch im Hinterland wird besorgniserregend, die Ernteaussichten für das Jahr 1916 wegen schlechten Wetters sind katastrophal. In der Logik Mühsams positiv umzubuchende Faktoren, da sie kriegsverkürzend wirken können. Erst Revolution, dann Weltfrieden, das ist der Plan. Ist das ein Plan? Als Maximalist macht es Erich Mühsam seinen (heutigen) Lesern nicht leicht. Anders gesagt: Der Anarchist wird leicht zum Spielball der Systeme, in deren Fängen er sich nolens volens bewegen muss.

 

Dieter Wenk (12-13)

 

Erich Mühsam: Tagebücher, Band 5, 1915-1916, hrsg. von Chris Hirte und Conrad Piens, Berlin 2013 (Verbrecher Verlag)

 

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