20. Dezember 2003

Rückkopplungs-Stadien

 

Als wir noch nicht bei allen unseren Sinnen waren: „Klangwelt Mutterleib“ hat das Alfred Tomatis genannt. Bevor der Säugling Selbstbespiegelung betreiben kann, hört er als Embryo erst mal ne Menge Ambient. Wie schwierig dieses „hören“ zu beschreiben ist, davon hat Peter Sloterdijk in „Sphären I. Blasen“ eine Ahnung gegeben. Es gibt ja noch kein Subjekt, geschweige ein Objekt. Wirken tut die Dröhnung trotzdem, keine Frage. Deshalb ist das Spiegelstadium auch nur ein abgeleitetes, kein das Ich begründendes Phänomen. Die akustischen Scherben bringt das Infans früher zusammen als die optischen. Und der Erwachsene der Frühzeit hat den Horror des auslaufenden, stinkenden Körpers, also der Leiche, gebannt in und mit den festen Umrissen des Bildes oder der Plastik: genotypische Erklärung des Spiegelstadiums. Der Blick und das Bild als rituelle Phänomene, Erscheinungen der magischen und religiösen Welt.

Régis Debray, der in seiner „Médiologie“ drei zeitlich aufeinander folgende Mediensphären unterscheidet, nennt als ersten Kandidaten der Bilderfabrik das Idol. Dieses weist auf etwas hin, was nicht gezeigt werden kann, z.B. Göttliches. Die erste Mediensphäre, die „Logosphäre“, kannte keine Kunst im heutigen Sinn, sie war noch nicht aus dem Religiösen ausdifferenziert. In der zweiten, der „graphischen Sphäre“ (graphosphère), emanzipiert sich das Bild; der Handwerker, Maler, Bildhauer, wird Künstler. Kunst wird zum autonomen Bereich. Wenn der Künstler mit seinen Bildern auch nicht mehr heilen kann, so zeigt sich in diesen doch immerhin noch das Wahre, die Essenz, das Wesen, etwa einer Landschaft oder eines Portraitierten. Der Wechsel von der ersten zur zweiten Sphäre beschreibt den Weg vom Index, im semiotischen Sinn, hin zum Ikon, vom Hinweisen auf eine höhere Sphäre hin zur Repräsentation einer Diesseitigkeit, deren Bereich sich mit der Zeit so weit ausdehnt, dass Realität und Kunst schließlich, zuerst bei Duchamp, zusammenfallen.

Das hat man oft als Ende der Kunst bezeichnet. Die Pointe bei Debray besteht darin, dass er zwar einerseits die Kunst (als Kunstbetrieb) weiterlaufen lässt, andererseits aber auch er das Ende der Kunst diagnostiziert, wobei dieses sich jedoch nicht einem Kunst immanenten Ereignis verdankt (zum Beispiel also der Tat einer selbst zerstörerischen Avantgarde, deren  Selbstverständnis er problematisiert und in Frage stellt), sondern einfach dem Beginn einer neuen Mediensphäre geschuldet ist, die er „Videosphäre“ nennt und auf der Kunst hoffnungslos aufläuft. Nichts ist also, wie es früher war, das Kunstsystem als Ganzes erhält im Videozeitalter, wie alles andere auch, den Stempel des ephemeren Phänomens aufgedrückt. Nicht, dass niemand mehr so richtig weiß, was eigentlich (noch) Kunst ist, ist das Problem, sondern dass deren Wahrnehmung eine andere geworden ist. Vielleicht stehen uns die schönsten Gemälde noch ins Haus – Pech für sie, man wird sie vermutlich für teures Geld verkaufen, aber sie bedeuten nichts mehr, kein Blick hält sie mehr fest. Paradoxerweise erleben wir mit der Videosphäre das Primat des Gehörs, im weiteren Sinne ist es der Sound, das Ambiente, das Environmentale, kurz gesagt das Ende des Kontemplativen, des Distanzierten, das dazu geführt hat und weiterhin führt, dass wir auch nicht mehr in einer „Gesellschaft des Spektakels“ (Guy Debord) leben. Der Blick ist zu einem Anhängsel, zu einer Modalität des Hörens geworden: „das Geräusch der Augen“. Fluxus total. Vielleicht schließt sich also mit der Videosphäre der Hörkreis, in dem sich schon der Embryo so ziemlich wohl fühlte und wohin wir nun, nach dem Ende der Subjekt-Objekt-Unterscheidung, von der auch die Kunst profitierte, wieder zurückkehren. Natürlich ist Régis Debray das beste Beispiel dafür, dass „wir“ die dritte Sphäre noch nicht wirklich betreten haben: Es gibt eben keinen Weg zurück zum Infans, zum Sprachlosen. Vorausgesetzt, es herrscht Klarheit darüber, wer wir sind.

 

Dieter Wenk

 

Régis Debray, Vie et mort de l’image. Une histoire du regard en Occident (Paris 1992)