7. September 2013

Kurzschluss mit der Natur

 

Es wirkt anachronistisch, wenn ein Autor des 20. Jahrhunderts eine ästhetische Kategorie reklamiert, die man gewöhnlich mit dem 18. Jahrhundert in Verbindung bringt, die des Natürlichen. Zwar vermeldet noch das 19. Jahrhundert naturalistische Positionen, aber diese stecken beinahe noch stärker in der Metaphysik als die der Naturadepten des großen Jahrhunderts der Aufklärung. Von beiden scheint der Franzose Paul Léautaud (1872-1956) gleich wert entfernt, auch wenn er seine eigene literarische Heimat fast ganz ins 18. Jahrhundert verlegt. Aber kurioserweise mag er Rousseau keineswegs. Zwar könnte er, Léautaud, mit dem Imperativ: Zurück zur Natur! sehr gut leben; aber in seinen Augen ist Rousseau (mit Chateaubriand) ein Autor, mit dem das Natürliche verloren ging. Léautaud lehnt alles ab, was irgendwie mit Kunst zu tun hat. Kunst ist per se Künstelei, Affekthascherei, Renommiererei, Prätention.

 

Er selbst legt im Laufe seines Lebens etwas vor, was in Frankreich einigermaßen berühmt geworden ist, ein „literarisches Tagebuch“, das aus knapp 20.000 Seiten besteht. Es stellt einen Mann in seiner Zeit vor, Tag für Tag, über 60 Jahre lang, sein Leben, seine Tätigkeit für den Mercure de France (Verlag und Zeitschrift), seine Beziehung zu Frauen, seine Armut und seinen Stolz auf Unabhängigkeit. Er ist ein Mann ohne Kompromisse, ohne Hintergedanken, er denkt nicht an seine Karriere, er ist kein Anlehnungstypus. Umgekehrt hat er für das meiste im Laufe der Zeit nur Verachtung übrig. Das mag an seinem enormen Selbstverhältnis liegen, das alles negativiert, das nicht in seinem Dunstkreis liegt.

 

Noch zu Lebzeiten wird das Journal littéraire ausschnittweise publiziert. Für manche ein Schock. Im Tagebuch spricht der Autor das aus, was er sich nicht traut, den anderen auf den Kopf zuzusagen, dass – im Falle von Literaten – ihr Werk nichts taugt. Irgendwann wird Léautaud nicht mehr von Paul Valéry eingeladen. Letzterer musste zur Kenntnis nehmen, dass Léautaud von seiner Dichtung rein gar nichts hielt: nicht aus dem Bann Mallarmés hinausgekommen, Wortgeklingel. Aber Paul Léautaud war alles andere als ein Naturalist im Gefolge Zolas. Natur – das war für ihn einfach so zu schreiben, wie er sprach, kein Suchen nach kostbaren und seltenen Worten (das war für ihn der Grund, warum etwa ein Autor wie Huysmans so schnell veraltete), kein Konzept als Leitfaden, sondern das Hochhalten eines schlichten sich selbst Entsprechens, das gar nicht anders konnte, als so vorzugehen, wie es vorging. Das bringt eine gewisse Brutalität mit sich, was Höflichkeit nicht ausschließt. Vielleicht war es seine persönliche Tragik, dass er nur sein eigenes Maß kannte und mit zunehmendem Alter das der anderen noch nicht einmal mehr tolerierte.

 

Fatalerweise hatte er für alles Nicht-Natürliche einen Namen, der alles andere als eine ästhetische Kategorie ist: das Jüdische, das Pastichehafte, das Parasitäre. Die von ihm generell verabscheute und gehasste Kunst muss man bei Léautaud mit dem Jüdischen als einer abgelehnten Lebensform verbinden. Diese ästhetisch nicht nachvollziehbare Überspannung einer Diffamierungskategorie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat nicht verhindert, dass Léautaud das Jüdische auch im Politischen am Werk sah. Von daher seine relative Sympathie gegenüber Hitlerdeutschland, auch wenn er Hitler selbst (wie Mussolini) für einen Dummkopf hielt. Léautaud war kein Kollaborateur im damaligen Sinn wie Robert Brasillach oder Pierre Drieu La Rochelle; wenn, dann „im Geiste“. Von der usurpierten „Natur“ ist das alles ganz weit weg. Die Inanspruchnahme dieser Kategorie ist Léautauds inakzeptable Strategie der Selbstgerechtigkeit. Natur heißt für ihn vor allem Respektlosigkeit vor anderen, keine Bewunderung von „Leistungen“ und der Verzicht auf Bewunderung anderer gegenüber seiner Person oder seinem „Werk“.

 

Ästhetisch hat das eine Umwertung zur Folge: Die Zweiten werden die Ersten sein. Die sogenannten „großen Männer“ waren in den Augen Léautauds beinah immer Dummköpfe. Und so gilt für Kunst und Literatur: „le second rayon est presque toujours supérieur au premier.“ Mit anderen Worten: Kunstkunst oder Kunstliteratur verschwindet hinter dem „ehrlichen“ Auftritt. Wenn aber wie bei Léautaud ziemlich dreist Natur und die eigene Selbstverständlichkeit ästhetisch kurzgeschlossen werden, so steht man ja doch wieder vor einer solchen Prätention, wie sie hier gerade unmöglich gemacht werden sollte.

 

Dieter Wenk (8-13)

 

Paul Léautaud: Journal littéraire. Choix de pages par Pascal Pia et Maurice Guyot, Paris 1998 (Mercure de France), 1304 Seiten