8. Juni 2013

Die Musterung

 

Bis vor Kurzem war sie ein meist unhinterfragtes Initiationsritual für fast alle jungen Männer in Deutschland, bevor sie dann 2011 zusammen mit der allgemeinen Wehrpflicht abgeschafft wurde: die Musterung. Sie stand nicht nur für die Überprüfung der körperlichen wie geistigen Eignung für den Militärdienst, sondern war auch Überbleibsel eines bevölkerungspolitischen Denkens, das darauf abzielte, den Bürger mit einem statistisch erhobenen, aber auch ideologisch inspirierten, ‚Muster‘ zu vergleichen. In der Praxis der Musterung kollidieren Normierungsbedürfnisse mit Kontrolldiskursen, die nicht zuletzt auch dazu dienen sollen, ein spezifisches Wissen über die Bevölkerung zu generieren.

Mit „Ginster“ hatte Siegfried Kracauer 1928 einen Roman geschaffen, in dem das Porträt eines jungen Architekten gezeichnet wird, der sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs mit dem Aufruf zur Musterung konfrontiert sieht. Ein ärztliches Attest und die Tatsache, dass Ginster als Architekt einen kriegswichtigen Beitrag bei der Konzeption eines Ehrenfriedhofs leisten kann, verhindern seine Einberufung vorerst. Schließlich kommt er dennoch an die Reihe und findet sich zwischen anderen jungen Rekruten wieder, die alle versuchen, den Militärarzt von ihrer „minderen leiblichen Verfassung zu überzeugen“ (S. 114). Auch Ginster will nicht an die Front, allerdings ohne ein glühender Pazifist oder radikaler Kriegsgegner zu sein. Seine Abneigung gegen den Krieg ist unartikuliert: Er „verabscheute … die Notwendigkeit, ein Mann werden zu müssen“ (S. 182), will sich nicht in klassische Rollenmuster zwängen lassen, ist ein früher Vertreter der Coming-of-Age-Dramatik und stößt immer wieder an die Grenzen seiner an Disziplin, Drill und Militarismus orientierten Gegenwart. Verächtlich beobachtet Ginster das Salutieren der Soldaten auf den Straßen, deren Hände weniger durch eigenen Impuls als durch die Mechanik des Systems nach oben schnellen. Sein Individualismus scheitert jedoch an der Gesellschaft, so wie die Richtlinien der Musterung vor den Anforderungen des Kriegs kapitulieren und sich dessen unerbittlicher Logik fügen müssen: „Der körperliche Zustand der Gemusterten schien sich nicht aus ihrem eigenen Befinden zu ergeben, sondern aus dem der Heere. Jene wurden um so gesünder, desto schwächer diese sich fühlten.“ (S. 157) Während er militärisch gesehen immer gesünder wird, wird Ginster, der anfangs eher simulierte, jedoch tatsächlich krank.

Als scharfsinniger Soziologe der Weimarer Republik und Journalist der Frankfurter Zeitung gelingt es Kracauer mit seinem ersten Roman, das Bild einer Kriegsgesellschaft mit ihren Institutionen zu entwickeln, ohne den Krieg selbst ins Zentrum seiner Erzählung zu rücken. Er berichtet vom Alltag, der missverstandenen Helden- und Opferbereitschaft der Bevölkerung, und verweist auf die weitläufigen Verflechtungen zwischen der Front und dem, was propagandistisch mit den Chiffren „Hinterland“ und „Heimatfront“ bezeichnet wurde. Dieses Interesse an den Verstrickungen von Alltagskultur und Ideologie wird er später in seiner grundlegenden filmhistorischen Studie „From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film“ (New York 1947) weiterentwickeln.

„Ginster“ ist mehr als ein Roman über einen ,Drückeberger‘ des Ersten Weltkriegs und kann als Kommentar auf die Jahre der Zwischenkriegszeit gelesen werden, die sich ja gerade nicht vom Nationalismus gelöst, sondern diesen in übersteigerter Form weitergeführt hatten. Der Krieg ist für Kracauer dabei nicht das Vorbild der militärisch und autoritär organisierten Gesellschaft – er ist vielmehr Effekt einer Gemeinschaft, deren Strukturen tief von Disziplin, Drill, Gehorsam und fanatischem Ordnungsglauben durchdrungen sind: „Die Übungen dienten gar nicht dem Krieg, sondern der ganze Krieg war ein Vorwand für die Übungen.“ (S. 260) Die Musterung ist hierbei die Ikone dieses Wachtraums, der mit schlafwandlerischer Sicherheit von einem zum nächsten Weltkrieg geführt hatte; sie ist Ausdruck jenes Auslesedenkens, das aus Menschen Soldaten machte und aus Gesundheit militärische Eignung ableitet. Der halb kränkelnde und halb simulierende Ginster ist ihr subversiver Antagonist, versucht ihre Logik zu unterlaufen, vermag sich ihr dennoch nur zögerlich zu widersetzten.

Der Suhrkamp Verlag hat „Ginster“ 2013 für ein größeres Publikum neu veröffentlicht, nachdem der Roman bereits 2004 im Band 7 der Siegfried Kracauer Gesamtausgabe erschienen ist. Der Roman berichtet von einer Gesellschaft, die aktuell auch Michael Haneke in seinem Film „Das weiße Band“ von 2009 in düsteren Bildern zurück in unser Bewusstsein geholt hat. Beide Werke zeigen, dass die Mentalität des Kriegs älter als die Kriege selbst ist, und entlarven autoritäre Gesellschaftsmodelle in verdichteten Szenarien von klaustrophobischer Kälte. Während Haneke die strenge Pädagogik des Protestantismus fokussiert, nimmt Kracauer das Schicksal eines jungen Akademikers in den Blick. Am Anfang des Romans steht der autobiografische Hinweis „Ginster. Von ihm selbst geschrieben“, der die Zeile „Eine Einigkeit, die der Kriege bedurfte, verfehlte nach Ginsters Dafürhalten ihren Zweck“ (S. 49) auch zu einem direkten und bis heute gültigen Kommentar des Romanautors Siegfried Kracauer macht.

Patrick Kilian

 

Siegfried Kracauer: Ginster, Frankfurt/M 2013 (Suhrkamp Verlag), 341 S., gebunden

 

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