22. Mai 2013

Die wahre Pop-Art des Richard Wagner

 

Schlechte Kunst 5

Wer will nicht lieber gut unterhalten sein, als sich von anderen langweilen zu lassen? Auf dem Feld der Kunst hat man aber schon immer ein bisschen mehr verlangt als bloße, wenn auch gute Unterhaltung. Und wer dieses Mehr, was auch immer das sei, nicht bietet, gilt als trivialer oder schlechter Künstler. Die Seite des Leichten weiß sich dennoch zu wehren. So schreibt zum Beispiel im Jahr 1822 ein Redakteur des Literatur-Blatts, einer Beilage zum Morgenblatt für gebildete Stände, über H. Clauren, den „Lieblingserzähler der Modewelt“: „... an solchen Autoren ist nicht gut kritisieren. Sie wollen nichts, als angenehm unterhalten, es gelingt ihnen; aber für dasjenige, was der Lesewelt angenehm seyn soll oder nicht, hat die Kunstphilosophie noch keinen Maßstab erfunden. Soll sie den für das Schöne und Erhabene anlegen? Das wäre zweckwidrig. In der Mode wie in der Liebe hat allezeit derjenige recht, welcher gefällt.“

 

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts an der Universität zu Berlin des Öfteren seine Vorlesungen zur Ästhetik als einer Philosophie über die Kunst hält, bewegt sich souverän und konstant jenseits dieser Lesewelt, die er kurz als Welt der Banausen oder Barbaren abgetan hätte. Aber dieses Abtun kommt genau mit eben der Zweckwidrigkeit überein, von der in dem obigen Zitat die Rede war. Eine Grenze tut sich auf, aber diese Grenze funktioniert wie eine semipermeable Membran, denn sie wird nur von einer Seite gezogen. „Was ist gut, und was ist schlecht? Und wer entscheidet darüber?“

 

Diese Frage liest der geneigte Leser in den Bayreuther Blättern aus dem Jahr 1878. Gut 50 Jahre später hat man also noch immer keinen Maßstab gefunden. Richard Wagner, der einmal mehr diese Frage stellt, sucht in seinem Aufsatz Publikum und Popularität nach der Instanz, die auf die Eingangsfrage vielleicht ein für allemal antworten könnte. Die „Kritik“ scheidet für Wagner kategorisch als Instanz aus. Sie ist, wenn nicht nachtragend, so doch bloß nachträglich. Die beste Kritik, und sei es die des Aristoteles, kommt immer zu spät. Der Geschmackskrieg muss auf dem Feld der Kunst selbst ausgetragen werden. Bereits in den 40er Jahren hatte sich Wagner Gedanken gemacht über die „Organisation eines deutschen Nationaltheaters für das Königreich Sachsen“. Wagner spricht sich in diesem Entwurf für eine Art „Gesamtverein“ aus, der „über die Erhaltung der ästhetischen, sittlichen und nationalen Reinheit des Nationaltheaters“ zu wachen habe. Kein „Rezensent“ sei fürderhin nötig, sobald die Kunst es verstehe, rein immanent Kriterien auszubilden. In Wagners Reinheitspostulat fällt natürlich sofort die gleichwertige Behandlung des Ästhetischen, Sittlichen und Nationalen auf, was befürchten lässt, dass der Rezensent  doch wieder durch die Hintertür eingeschleust wird. Hier liegt die ganze Problematik Richard Wagners.

 

Seinen Aufsatz aus dem Jahr 1878 hängt Wagner an einem Sprichwort des Angelsachsen Alkuin auf, das dieser allerdings tadelnd gebrauchte: vox populi, vox dei, also: Des Volkes Stimme ist Gottes Stimme. Wenn also Kritiker oder Rezensenten als Instanzen für die Beantwortung obiger Frage ausfallen, da sie innersystemisch angegangen werden müsse, bleibe, so Wagner, „für den Hauptzweck dieser Untersuchung nur diejenige lebendige Versammlung, welcher das Kunstwerk unmittelbar vorgeführt wird, zur Betrachtung übrig.“ Wie aber entscheidet das Volk? Wie göttlich ist sein Urteil? Wagners Ansatz ist wenn nicht raffiniert so doch egozentrisch. Er beginnt nämlich mit einer petitio principii, die vermutlich nur Wagner selbst als objektive Lage der Fakten absegnen würde. So heißt es zu Beginn des Aufsatzes über Publikum und Popularität:

 

„Wer ist nun das ,Publikum', dem das Schlechte wie das Mittelmäßige dargeboten wird? Woher nimmt es das Urteil zur Unterscheidung, und namentlich die, wie es scheint, so schwierige Erkenntnis des Mittelmäßigen, da das Gute selbst eben sich ihm gar nicht darbietet, sondern das Merkmal des Guten eben darin besteht, daß es für sich selbst da ist und das im Mittelmäßigen und Schlechten erzogene Publikum sich erst erheben muß, um an das Gute heranzutreten?“

 

Wagner präzisiert das Diktum von der Autonomie der Kunst, insofern nur die gute Kunst autonom (für sich selbst da) sei. Schlechte und mittelmäßige Kunst sei also für andere da. Und zwar für deren Belange und Interessen. Gute Kunst kümmere sich aber nicht um das Publikum, schon gar nicht um sein Vergnügen und Amüsement, wobei man wieder bei H. Clauren und seiner „Mimili-Manier“ angekommen wäre, ein stehender Ausdruck für triviale Kunst. Was versteht Wagner unter dem Mittelmäßigen? „Gemeinhin verstehen wir unter diesem wohl dasjenige, was uns nicht etwas unbekannt Neues, das Bekannte aber in gefälliger und schmeichelnder Form bringt. Es könnte, im guten Sinn, das Produkt des Talentes darunter verstanden sein, wenn wir dieses mit Schopenhauer so auffassen, daß das Talent in ein Ziel treffe, welches wir zwar alle sehen, aber nicht leicht erreichen; wogegen das Genie, der Genius des ,Guten', in ein Ziel treffe, das wir anderen gar nicht einmal sehen.“ War bei Kant das Genie noch naturgebunden in seiner Produktion, so hebt das Wagnersche Genie ab. Es ist absolut Avantgarde. Ihr gegenüber ist das Publikum blind, weil geblendet von Talenten und Virtuosen. Im Gegensatz zum Mittelmäßigen charakterisiert Wagner das Schlechte in der Kunst als das „gänzlich Nichtige“. Er fährt fort: „Dieses Schlechte, weil Nichtige, ist nun aber das Element unserer ganzen ,modernen' – sogenannten belletristischen – Literatur geworden.“

 

Gegen ein solches Elementarteilchen ist natürlich schwer ankämpfen. Wie soll man ausscheren können aus diesem Verbund aus schlechter Literatur und Kunst, zerrüttetem Kunstgeschmack und dem Ausschluss des Guten und Genies? Mundus vult decipi. Ist das wirklich das letzte Wort der Kunst? „Mundus vult Schundus“, so sah es, angeblich gut gelaunt, Friedrich Liszt, so Richard Wagner. Der Schund, das Schlechte bestehe also darin, „daß die Absicht, durchaus nur zu gefallen, sowohl das Gebilde als dessen Ausführung hervorruft und bestimmt.“ Wagner kennt aber ein „Wertphänomen“, das über das bloß Schlechte noch hinausgeht. Er nennt es das „absolut Schlechte“. Wagner scheint zunächst die Schlechtigkeit von Künstlern dadurch relativieren zu wollen, dass die Zeit, in der sie lebten, gewissermaßen nichts anderes hergebe und jeder ein Kind seiner Zeit sei, so auch der Komponist Rossini. Die „Argumentation“ Wagners ist aber nur perfide. Folgen wir dem Bogen, bis und wie er in sein „widerwärtiges“ Ende einrastet:

 

„Unmöglich kann Rossini unter die schlechten, ganz gewiß auch nicht unter die mittelmäßigen Komponisten gezählt werden; da wir ihn jedenfalls aber auch nicht unseren deutschen Kunstheroen, unserem Mozart oder Beethoven zugesellen können, so bleibt hier ein fast kaum zu bestimmendes Wertphänomen übrig, vielleicht dasselbe, was in unserem indischen Weisheitsspruche (1) so geistvoll negativ bezeichnet wird, wenn er nicht das Schlechte, sondern das Mittelmäßige schlecht nennt. Es bleibt nämlich übrig, mit der Täuschung des Publikums zugleich auf die Täuschung des wahren Kunsturteiles auszugehen, ungefähr wie leichte und fehlerhafte Ware für schwere und solide anbringen zu wollen, um die allerwiderwärtigste Erscheinung zutage zu fördern.“

 

Das Problem ist natürlich, wie sich das Publikum erst „erheben“ muss, um auf das „Schwere“ zu stoßen. Es ergeben sich hier in der Tat argumentationslogische Hürden, die auch ein Schwergewicht wie Richard Wagner nicht zu lösen vermag. Wie immer ersetzen Appelle Argumente. Das Merkmal des „Reinen“ wird nun aus der Produktionssphäre des Künstlers gelöst und auf die Achse projiziert, die der Künstler und sein Werk mit dem Publikum bildet: „Erst die höchste Reinheit im Verkehr eines Kunstwerks mit seinem Publikum kann die nötige Grundlage zu seiner edlen Popularität bilden.“ (An einer späteren Stelle ist von der „adelnden Popularität“ von Kunstwerken die Rede; aus der petitio principii wird der klassische humanistische Fehlschluss.) Die jetzige Stimme des Volkes ist des Teufels. Oder, wie es ja auch ganz witzig formuliert bei Wagner heißt: „Wenn ich die Vox populi hochstelle, so kann ich doch nicht das heutzutage ,populär' gewordene als Produkt des ,Deus' jener ,Vox' anerkennen.“ Es bleibt der Kampf zwischen Gartenlaube und Treibhaus.

 

(1)  Der dem Aufsatz vorangestellte indische Weisheitsspruch lautet: „Schlecht ist nicht das Schlechte, denn es täuscht nur selten; das Mittelmäßige ist schlecht, weil es für gut kann gelten.“

 

Dieter Wenk (5-13)

 

Richard Wagner, Publikum und Popularität, in: Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen, hrsg. von Wolfgang Golther, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart o.J. (Deutsches Verlagshaus Bong & Co,), Zehnter Band, S. 61-91

H. Clauren, Mimili – Wilhelm Hauff, Kontorvers-Predigt über H. Clauren, Stuttgart 1984 (Reclam)

 

Schlechte Kunst (1)

Schlechte Kunst (1.1.)

Schlechte Kunst (2)

Schlechte Kunst (3)

Schlechte Kunst (4)