6. Mai 2013

Regelpoetiken

 

Schlechte Kunst (3)

 

Die Zeit der Regelpoetiken ist lange vorbei, nach einer ersten Attacke im 18. Jahrhundert (Lessing, Herder) starben sie im Jahrhundert darauf an Bedeutungslosigkeit, etwa zeitgleich mit der Humoralpathologie (Viersäftelehre), die ebenfalls in die Antike zurückreicht. Anders als Platon glaubt Aristoteles an eine positive Wirkung der Künste (speziell des Dramas), welcher moralische Effekt (Katharsis) aber genau gemeint war, das ist bis heute Gegenstand ästhetisch-wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Wie auch immer, Aristoteles hatte eine genaue Vorstellung davon, wie ein Drama zusammengesetzt sein müsse, damit es gut sei, jede Abweichung von der Regel war per se schlecht. Aus heutiger Sicht überrascht es, dass ein Fachfremder (Aristoteles schrieb anders als Lessing keine Theaterstücke) sich zumutete zu dekretieren, wie man Kunst machen müsse – ein Sakrileg für jeden Individualmythologen. So beginnt Aristoteles seine Poetik mit folgendem Satz:

 

„Von der Dichtkunst selbst und von ihren Gattungen, welche Wirkung eine jede hat und wie man die Handlungen zusammenfügen muß, wenn die Dichtung gut sein soll, ferner aus wie vielen und was für Teilen eine Dichtung besteht, und ebenso auch von den anderen Dingen, die zu demselben Thema gehören, wollen wir hier handeln, indem wir der Sache gemäß zuerst das untersuchen, was das erste ist.“ Das Programm, das so lapidar formuliert ist, ist größenwahnsinnig. Aber dieser Zug fällt wohl erst ins Auge, wenn man die andere Seite kennengelernt, also den Zerfall der Regelpoetik als notwendig zur Kenntnis genommen hat. Nach Aristoteles entsteht alles aus Nachahmung, und es waren die dafür besonders Begabten, die aus Improvisationen die Dichtung hervorgebracht haben. Das folgende Zitat ist vor allem deshalb interessant, weil es zeigt, dass Poetiken Selektionen zu Grunde liegen und das Ausgesparte von jetzt an sozusagen darauf warten muss, erneut als Option artikuliert zu werden:

 

„Das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist also der Mythos [die Geschichte]. An zweiter Stelle stehen die Charaktere. Ähnlich verhält es sich ja auch bei der Malerei. Denn wenn jemand blindlings Farben aufträgt, und seien sie noch so schön, dann vermag er nicht ebenso zu gefallen, wie wenn er eine klare Umrißzeichnung herstellt.“ Die blindlings aufgetragenen Farben wären also die Charaktere, die sich noch nicht auf eine gemeinsame Geschichte geeinigt hätten. Und im Nachhinein mag es erstaunen, wie lange die Geschichten und Umrisse überhaupt gehalten haben, bevor sie als verbindliche zusammenbrachen und die Farben und Charaktere sich emanzipierten. Die Sortierung nach guter und schlechter Kunst verläuft also denkbar einfach, wer sich an die Regeln hält, ist ein guter, wer dagegen verstößt ein schlechter Dichter (Künstler). Das vielleicht prägnanteste Beispiel aus der Poetik sei hier zitiert:

 

„Unter den einfachen Fabeln und Handlungen sind die episodischen die schlechtesten. Ich bezeichne die Fabel als episodisch, in der die Episoden weder nach der Wahrscheinlichkeit noch nach der Notwendigkeit aufeinanderfolgen. Solche Handlungen werden von den schlechten Dichtern aus eigenem Unvermögen gedichtet, von den guten aber durch Anforderungen der Schauspieler.“ Schön, dass uns Aristoteles hier ein so frühes Beispiel für Korruption liefert. Gute Stückeschreiber können umfallen und schlecht werden, wenn sie sich empfänglich zeigen für die Aufblähung eines Teils, der sich emanzipiert (der Schauspieler). Der Schauspieler fordert seine eigene Koloratur, zerstört damit aber die Umrisslinie. (Das ist ein Thema, auf das noch der klassizistische Nietzsche zurückkommen wird.) Aber für Aristoteles sind das Fehler, die nicht am System kratzen: menschliche Schwächen, die sich korrigieren lassen. Über das genaue Verhältnis der von der Natur Begabten zur Kunst und dem Kunstverstand, also dem Wissen um die Kunst, schweigt sich Aristoteles aus. (1)

 

Dass beides irgendwie zusammengehört, davon weiß immerhin Horaz in seiner im Verhältnis zur Poetik jüngeren Ars Poetica zu berichten: „Ob durch Naturtalent eine Dichtung Beifall erringt oder durch Kunstverstand, hat man gefragt. Ich kann nicht erkennen, was ein Bemühen ohne eine fündige Ader oder was eine unausgebildete Begabung nützt; so fordert das eine die Hilfe des andren und verschwört sich mit ihm in Freundschaft.“ Während noch Aristoteles schlechte Kunst als im Grunde vernachlässigbar übergeht und nur auf mögliche Gefahren aufmerksam macht, scheint 300 Jahre später zur Zeit des Horaz eine andere Situation eingetreten zu sein; Horaz moniert nicht einzelne Verstöße, sondern gleich den kompletten Ausfall: So heißt es im Anschluss an das obige Zitat: „… wer sich bei den Pythischen Spielen als Flötist hören läßt, hat vorher gelernt und seinen Lehrer gefürchtet. Heute genügt die Erklärung: ,Ich dichte ganz herrliche Dichtungen. Der Letzte kriege die Krätze! Ich halt es für schändlich, mich überholen zu lassen und zuzugestehn, ich verstünde nicht, was ich, nun ja, nicht erlernt hab.‘“

 

Ein solcher Künstler muss nach Horaz zum Üben nach Hause geschickt werden, da hilft kein noch so großes Geschrei: „Der gute und sachverständige Mann wird kunstwidrige Verse tadeln, plumpe mißbilligen, zu schmucklosen ein schwarzes Zeichen mit schrägen Federstrich setzen, üppigen Zierat beschneiden, den Stellen, die nicht hell genug sind, mehr Licht zu geben erzwingen, mißverständlich Gesagtes verklagen, was zu ändern ist, wird er bezeichnen, er wird zum Aristarch.“ Aristarch ist niemand anderer als die Regelpoetik in Person des Kritikers. Aber vielleicht will man dann doch irgendwann auch mal nur „herrliche Dichtungen“?

 

(1)  Über „Literatur dieser Art“, die Hegel in seiner Ästhetik bloße „Theorien der Künste“ nennt (z.B. Aristoteles, Horaz, Longin), also noch nicht eine Philosophie der Kunst anzubieten haben (wie eben Hegel selbst), schreibt Letzterer: „Die allgemeinen Bestimmungen, welche man abstrahierte, sollten insbesondere für Vorschriften und Regeln gelten, nach denen man hauptsächlich in den Zeiten der Verschlechterung der Poesie und Kunst Kunstwerke hervorzubringen habe. Doch verschrieben diese Ärzte der Kunst für die Heilung der Kunst noch weniger sichere Regeln als die Ärzte für die Wiederherstellung der Gesundheit.“

 

Dieter Wenk (4-13)

 

Aristoteles, Poetik. Griechisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982 (Reclam)

Horaz, Ars Poetica/Die Dichtkunst. Lateinisch und deutsch, übersetzt und mit einem Nachwort herausgegeben von Eckart Schäfer, Stuttgart 1972 (Reclam)

G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt am Main 1986 (Suhrkamp)

 

 

Schlechte Kunst (1)

Schlechte Kunst (1.1.)

Schlechte Kunst (2)

Schlechte Kunst (4)

Schlechte Kunst (5)