15. April 2013

Eine gewisse Entrüstung, aber auch Ratlosigkeit

 

Schlechte Kunst (1.1.)

Der Anspruch an den Übersetzer ist denkbar hoch. Dabei steht in Goethes Besprechung von Fr. L. Stolbergs Übersetzung auserlesener Gespräche des Platon noch nicht einmal die Güte von Stolbergs Arbeit zur Diskussion. Goethe wünscht sich nichts weniger als Informationen zur „wahrscheinlichen Lage des alten Schriftstellers“ [Platon] sowie Inhalt und Zweck der einzelnen Werke. Denn Goethe kann sich partout nicht erklären, warum Stolberg Platons Dialog Ion „als ein kanonisches Buch“ mit aufgeführt habe, „da dieser kleine Dialog Nichts als eine Persiflage ist“.

 

 

Eine Altphilologie im heutigen Sinn existiert 1796 noch nicht. Aber Goethe tut ja so, als ob er schon über die Qualität des Ion entschieden hätte. Warum lässt er es dann nicht bei der obigen Bemerkung bewenden, um sich den wahren, kanonischen Werken des alten Philosophen zuzuwenden? Über nichts anderes als über den Rhapsoden Ion ist jedoch in der Besprechung die Rede. Als ob trotz der deutlichen Worte Goethes auch in Richtung Sokrates/Platon dieser kleine Dialog immer wieder sein Haupt erheben würde und sich nicht niederknien lassen wolle. Das erste kritische Wort geht jedoch in Richtung des Übersetzers, der den Dialog wohl nur deshalb als Übersetzung mit aufgenommen habe, weil in ihm von göttlicher Inspiration die Rede sei. Dazu Goethe: „Leider spricht aber Sokrates hier, wie an mehrern Orten nur ironisch.“

 

Dieser Satz leitet schon über ins Zentrum der Fragwürdigkeit dieses Dialogs, denn nach Goethe ist die „Lehre von Inspirationen“ „falsch“. Aber der eigentliche Punkt scheint folgender zu sein: Von diesem Dialog geht in keine Richtung irgendeine Lehre aus. Weder für Ion, den Rhapsoden, noch für den Leser, „denn mit der Poesie hat das ganze Gespräch Nichts zu thun.“ Ion, so Goethe, sei einer unter mehreren Gesprächspartnern Sokrates‘, bei denen es nur darum gehe, aufgrund von deren Dummheit die Weisheit des anderen (Sokrates/Platon) herauszustellen. Dabei hätte das Gespräch, anstatt sich mit „albernen Fragen“ zu beschweren, sich ein wenig mit Goethes eigenen Kunstvorstellungen beschäftigen können. (Die albernen Fragen sind jene Fragen des Sokrates, bei denen es um die Kompetenz des Kenners und des Laien im jeweiligen Sachgebiet geht.) Goethe: „Zur Beurtheilung des epischen Dichters gehört nur Anschauung und Gefühl und nicht eigentlich Kenntnis…“ Natürlich kennt auch Goethe die Geschichte vom Schuster und von Apelles, und Goethe lässt keinen Zweifel daran, wo er steht: „Wir haben in Künsten mehr Fälle, wo nicht einmal der Schuster von der Sohle urtheilen darf; denn der Künstler findet für nöthig, subordinirte Theile höhern Zwecken völlig aufzuopfern.“ Wie also nach Paulus die Frau in der Kirche zu schweigen habe (Metaphysik ist Männersache), so habe in Sachen Kunst der Nichtkünstler sein Maul zu halten. Aber haben diese nicht auch „Anschauung und Gefühl“? Wie erreicht man den „höhern Zweck“?

 

In dem folgenden Zitat, das an das letzte direkt anschließt, verschärft Goethe, zunächst ironisch anspielend auf die Wagenlenkerstelle im Ion, den Ton und ist sichtlich um Ordnungsstiftung bemüht: „So habe ich selbst in meinem Leben mehr als Einen Wagenlenker alte Gemmen [Halbedelstein mit vertieft eingeschnittenem Bild] tadeln hören, worauf die Pferde ohne Geschirr dennoch den Wagen ziehen sollten. Freilich hatte der Wagenlenker recht, weil er Das ganz unnatürlich fand; aber der Künstler hatte auch recht, die schöne Form seines Pferdekörpers nicht durch einen unglücklichen Faden zu unterbrechen. Diese Fictionen, diese Hieroglyphen, deren jede Kunst bedarf werden so übel von allen Denen verstanden, welche alles Wahre natürlich haben wollen, und dadurch die Kunst aus ihrer Sphäre reißen. Dergleichen hypothetische Aeußerungen alter und berühmter Schriftsteller, die am Platz, wo sie stehen, zweckmäßig sein mögen, ohne Bemerkung, wie relativ falsch sie werden können, sollte man nicht wieder ohne Zurechtweisung abdrucken lassen, so wenig als die falsche Lehre von Inspirationen.“

 

Es ist wohl die platonisch/sokratische Nichtberücksichtung eben dieser kunsteigenen Sphäre, diesseits der unmöglichen Inspiration, die Goethe an diesem Gespräch reizte – und störte. Denn noch für jenen „schlechtesten Dichter“ Tynnichos im Ion hat Goethe ein erklärendes Wort parat, das nicht nötig hat, auf die (von Platon, wie Goethe ja selbst am Anfang anmerkt, ja selbst schon nur ironisierte) Rede von der göttlichen Inspiration zurückzugreifen: „Daß einem Menschen, der eben kein dichterisches Genie hat, einmal ein artiges, lobenswerthes Gedicht gelingt, diese Erfahrung wiederholt sich oft, und es zeigt sich darin nur, was lebhafter Antheil, gute Laune und Leidenschaft hervorbringen kann.“ Goethe gibt hier, ohne dass das Wort fiele, eine Charakterisierung dessen, den er kurze Zeit später (1799) gemeinsam mit Friedrich Schiller als den nicht ernst zu nehmenden Begleiter des wahren Künstlers charakterisieren wird: den Dilettanten. Und dann heißt es vom anerkannten Dichter, dass er „nur in Momenten fähig“ sei, „sein Talent im höchsten Grade zu zeigen“. Wie diese Momente den Dilettanten vom Genie unterscheiden, das sagt uns Goethe nicht, auch wenn er so etwas wie die Transparenz des arbeitenden Genies postuliert, denn „ es läßt sich dieser Wirkung des menschlichen Geistes psychologisch nachkommen, ohne daß man nöthig hätte, zu Wundern und seltsamen Wirkungen seine Zuflucht zu nehmen, wenn man Geduld genug besäße, den natürlichen Phänomenen zu folgen, deren Kenntniß uns die Wissenschaft anbietet, über die es freilich bequemer ist vornehm hinwegzusehen als Das, was sie leistet, mit Einsicht und Billigkeit zu schätzen.“

 

Auf diese Wissenschaft warten wir heute noch. Und vor allem könnte dieser Psychologismus nicht erklären, was Platon denn nun wirklich mit seinem Ion sagen wollte, und mit dieser Ratlosigkeit endet diese Goethe’sche Besprechung, die es sich zuletzt verkneifen muss, zu sagen, wie herzlich schlecht doch dieser Ion sei.

 

Dieter Wenk (4-13)

 

Johann Wolfgang von Goethe, Plato, als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung, in: Goethe’s [sic] sämmtliche [sic] Werke in fünfundvierzig Bänden, Leipzig o.J. (Reclam).  Neununddreißigster Band: Auswärtige Literatur und Volkspoesie. S. 8-11

 

Platon, Sämtliche Werke I, in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, hrsg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plamböck, Reinbek bei Hamburg 1982 (Rowohlt)

 

 

 

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