7. April 2013

Der verunglückte Hauch der Musen

Schlechte Kunst (I)

Künstler lassen sich in der Regel von anderen Künstlern anregen. (Verschärft formuliert steckt in der Behauptung ein Gottesbeweis: Der erste Künstler muss (ein) Gott gewesen sein.) Wie aber halten es die sterblichen Künstler mit der Inspiration? Darf man ihnen trauen, wenn sie sich inspiriert glauben? Macht sich das auf der anderen Seite bemerkbar, beim Betrachter oder Leser oder Zuhörer? Gehört Inspiration heute überhaupt noch zum Spiel der Kunst? Jedenfalls hat sie eine lange Tradition. Ob Götter oder Musen, irgendeine Instanz musste als Katalysator der Kunst herhalten. Nur als Katalysator oder auch noch als Garant guter Kunst? Gab es in der Antike überhaupt die Unterscheidung zwischen guter und schlechter Kunst? Konnten sich die Götter auch mal an den Falschen wenden? Zum Beispiel beim ersten Versuch eines Kunstaspiranten? Und der Hauch ging ins Leere?

 

Der späte Platon verabschiedete, ja verurteilte Kunst generell – aus erkenntnistheoretischen, nicht aus ästhetischen Gründen. Auf der Wahrheitsleiter erreichte Kunst noch nicht einmal die Stufe der schnöden Wirklichkeit, war vielmehr ein bloßer Abklatsch von ihr. In diesem Zusammenhang musste eine Unterscheidung zwischen guter und schlechter Kunst als überflüssig gelten, so luxuriös und schädlich wie die Kunst selbst. Der vorklassische Platon operiert aber noch mit den in Rede stehenden Kategorien von guter und schlechter Kunst, zum Beispiel in dem sehr unterhaltsamen Dialog Ion. Sokrates begrüßt Ion, der gerade von einem Wettstreit von Rhapsoden zurückgekehrt ist und dabei den ersten Preis davongetragen hatte. Rhapsoden waren im alten Griechenland Vortragskünstler, sie rezitierten die alten Dichter (vor allem Homer) und schmückten sie aus. Sokrates, der den etwas naiven und recht eitlen Ion ein bisschen vorführen möchte, bietet scheinbar aus der Hand geschüttelt eine Beschreibung des Rhapsoden als Typus, die Ion schnell aufs Glatteis führen wird. Sokrates ganz wohlwollend: „Denn es kann doch keiner ein Rhapsode sein, wenn er nicht versteht, was der Dichter meint; da ja der Rhapsode den Zuhörern den Sinn der Dichtung überbringen soll, und dies gehörig zu verrichten, ohne einzusehen, was der Dichter meint, ist unmöglich.“

 

Sokrates knüpft hier einen äußerst problematischen Knoten, dessen Gewirk Ion überdies gar nicht versteht. Mit der Bestimmung des Rhapsoden setzt Sokrates zweigleisig an. Auf der einen Seite verlangt er von ihm, dass er mit all den Künsten (techné im Griechischen, mehr im Sinne von Fertigkeiten), von denen der Dichter spricht, selbst vertraut ist, deren Funktion ihm also nicht fremd sein darf (die Kunst der Krieges, die Kunst des Schiffsbaus, die Kunst des Arztes etc.). Auf der anderen Seite ist dieses Verständnis allererst die Bedingung für das, was Sokrates „Sinn der Dichtung“ nennt, was also in der Dichtung selbst gar nicht steht, sondern aus ihr herauszuziehen ist, als Interpretation, aber dann als einzig mögliche, identisch mit der Absicht des Dichters. Sokrates möchte zunächst von Ion erfahren, warum dieser glaube, nur beim Homer „so viele schöne Auslegungen“ hervorzuzaubern, nicht aber bei anderen Dichtern, auch wenn diese das gleiche Thema behandelten. Dem schlichten Ion fällt als Antwort nichts Bestimmtes ein, erst Sokrates muss näher spezifizieren, und hier fällt zum ersten Mal die Unterscheidung zwischen guter und schlechter Dichtung: Ion: „Aber sie [die anderen Dichter] haben doch gar nicht so gedichtet wie Homeros.“ Sokrates: „Wie denn? Schlechter?“ Ion: „Bei weitem.“ Sokrates: „Und Homeros besser?“ Ion: „Besser, jawohl, beim Zeus.“ Sokrates knüpft nun aber kein Gespräch über ästhetische Kriterien an, was also Homer dichterisch besser mache als die meisten anderen. Es folgt vielmehr sein bekanntes Abfragespiel, bei dem seinem Gegenüber nicht viel mehr bleibt, als mit Ja oder Nein zu antworten. Das Spiel geht um berufliche Kompetenzen, um das, was jemand am besten kann und wo kompetenzfremde Kritik fehl am Platze ist: Jeder Schuster möge also bei seinem Leisten bleiben. (Sokrates‘ Voraussetzung dabei, die er auch offenlegt: dass jede Kunst, etwa die Arzneikunst, eine sei, „eine ganze Kunst“.) Sokrates‘ Folgerung: Der gut über Homer Sprechende muss auch gut über andere Dichter sprechen können, da die Künste, die dort in Frage stehen, die gleichen oder ähnliche sind. Wenn aber nun Ion tatsächlich nur über Homer plausibel als Rhapsode sprechen könne, müsse es dafür andere Gründe geben; anders gewendet besagt das Argument, dass Ion „durch Kunst und Wissenschaft über den Homeros zu reden unvermögend“ sei.

 

Hier kommt die Inspiration ins Spiel, „eine göttliche Kraft“. Es ist die Muse, die zuerst die Begeisterten macht, und wie bei einem Magneten, so das Bild des Sokrates, der nicht nur den eisernen Ring an sich zieht, sondern auch diesem ebendiese Kraft verleiht, so hängen an den Begeisterten „eine ganze Reihe anderer durch sie sich Begeisternder.“ Die Kette beginnt bei der Muse (dem Gott), geht über den Dichter über den Rhapsoden bis hin zum Zuhörer. Eine folgenschwere Konsequenz ergibt sich: „Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt.“ Ion also vermag besonders über den Homer zu sprechen, weil er eine „göttliche Schickung“ erfahren hat, und nicht, weil er sich in den jeweiligen von Homer ins Spiel gebrachten Künsten auskennt. Das gleiche muss natürlich auch für Homer gelten. Wie aber kommt nun der gute oder schlechte Dichter ins Spiel? Wenn er doch eigentlich für sein Produkt nichts kann, das ja nicht seines ist, sondern göttlich? An der technischen Ausarbeitung kann es nicht liegen, denn darin läge zu viel Bewusstheit, modern gesprochen: Konstruktion. Poes Philosophy of Composition ist noch weit weg.

 

Sokrates‘ Finale der Einführung Ions in die Philosophie der Inspiration ist erstaunlich. Es endet im didaktischen Spurt und nimmt ein weiteres Mal die Götter in die Pflicht, denn diese hätten an einem ansonsten völlig zu vernachlässigenden Dichter, der ein einziges großes und schönes Gedicht geschrieben habe, zeigen wollen, dass eben die Kunst eine göttliche sei, „die Dichter aber nichts sind als Sprecher der Götter, besessen jeder von dem, der ihn eben besitzt. Um dies zu zeigen, hat recht absichtlich der Gott durch den schlechtesten Dichter das schönste Lied gesungen.“ Man ahnt, was Sokrates meint – die Feier der göttlichen Schickung –, aber ist es auch logisch?

 

Warum ist dieser Tynnichos der Chalkidier der schlechteste Dichter, wenn doch das Dichten nichts Menschliches ist, die Verantwortung also nicht auf ihn zurückfallen kann? Von Göttern und Musen erwarten wir durchgängig gute Qualität, sonst würden die menschlichen Dichter umsonst bewusstlos gemacht und „wahnsinnig“. Wer wie Sokrates und Platon die Sphären der Produktion trennt und dem Sterblichen nur den ausführenden Part lässt, muss den Fehl im über- und vorgeordneten Bereich suchen. Der Magnet zieht nicht, der Hauch der Muse verirrt sich.

 

Die Verantwortung nur beim Menschen/Künstler zu suchen macht die Sache aber auch nicht einfacher. So soll Apelles, der der Antike als bedeutendster Maler überhaupt galt, bewusst das Urteil der Öffentlichkeit gesucht haben, indem er seine Werke, von denen keines der Nachwelt überliefert ist, öffentlich präsentierte. Interessant ist, dass Apelles offenbar ganz ohne die Unterstützung der Musen ausgekommen ist, da er sich sogar der Kritik von Nicht-Malern gegenüber offen zeigte. So änderte er die Sandale einer von ihm dargestellten weiblichen Figur, da ein Schuster jene nicht korrekt ausgeführt empfand. Und so wanderte das, was Sokrates den Musen oder Göttern vorzuenthalten glauben musste, um Ions seltsame Fähigkeit retten zu können, nur über Homer gut sprechen zu können, ab in die alleinige Kompetenz des Künstlers, der sich ab jetzt aber auch irren konnte. Schlechte Kunst als nicht korrekte Kunst. Die Geschichte mit dem Schuster geht aber noch weiter. Dieser kam nämlich am nächsten Tag wieder, und statt das Bild nun abzusegnen, weil die Sandale nach der Korrektur dem schusterlichen Maßstab entsprach, fing der Schuster an, an der Schönheit der ganzen weiblichen Figur zu zweifeln. Diesen Einwand empfand Apelles offensichtlich als Eingriff in seine ästhetische Kompetenz, und seitdem ist das Wort in aller Welt, zumindest seitdem Plinius ein paar hundert Jahre später diese Anekdote überliefert hat, mit dem Apelles auf seinen Kritiker regierte: „Schuster, bleib bei Deinem Leisten“.

 

Noch heute warten wir auf das eigentliche Argument Apelles‘. Denn in Wahrheit wurde schon in der Antike von einem Schuster dem ästhetischen Fass der Boden ausgeschlagen. Ob mit oder ohne Muse – von Anfang an entscheidet ein lautes Wort darüber, was gut ist. Doch die schlechte Kunst ficht das nicht an, sie ist so unsterblich wie ihr scheinbares Gegenüber.

 

Dieter Wenk (3-13)

 

Platon, Sämtliche Werke I, in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, hrsg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plamböck, Reinbek bei Hamburg 1982 (Rowohlt), S. 97-111

 

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