14. Februar 2013

Produktives Missverständnis

 

Mit der Herausgabe des Supplementbandes zu den Naturwissenschaften kommt das Handbuch-Konvolut zu Goethes Leben und Werk nunmehr zum Abschluss. Die ersten drei Bände des ersten Teils dieses Konvoluts erschlossen Goethe gattungsmäßig (Dichtung, Prosa, Dramatik), der vierte Band (in zwei Teilbänden) informierte über Leben und Werk, an den sich ein Registerband anschloss. Drei Supplementbände bilden den zweiten Teil des Konvoluts: Band 1 handelt von Musik und Tanz in den Bühnenwerken Gothes, Band 3 von der Kunst; der jetzt als letzter erschienene Band 2 zum Themenkomplex der Naturwissenschaften gibt auf über 800 Seiten Gelegenheit, sich einen Überblick über das weitgestreute, wenn man will: dichtungskomplementäre Forschungsfeld Goethes zu verschaffen.

 

Das Vorwort konstatiert zunächst ganz lapidar die Bedeutung dieses Interessenschwerpunkts: „Naturforschung hat in Goethes Leben eine äußerst wichtige, wenn nicht die zentrale Rolle gespielt!“ In einem ersten Schritt werden anschließend die verschiedenen Felder in einer Reihe von Übersichtsartikeln präsentiert: Die Schriften zur Morphologie machen den Anfang, der interessierte Leser findet hier zum Beispiel auch Verweise auf Schriften, die Goethes Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären, vorausgehen. Einen weiteren Schwerpunkt stellt natürlich die Farbenlehre (1810) dar, deren lange Entstehungsgeschichte nachgezeichnet wird. Die generelle Wertschätzung der Naturforschung, von der das Vorwort schon sprach, wird in diesem Kapitel gleich am Anfang spezifiziert und untermauert: „Im Selbstverständnis Goethes erscheint die Farbenlehre als sein Hauptwerk und Vermächtnis an die Nachwelt.“ Vielleicht, weil in dieser umfangreichen Schrift (1600 Seiten) am deutlichsten Goethes polare Weltsicht, die jedoch auf Einheit zielt, sich zu erkennen gibt. Licht ist für ihn ein einheitliches Phänomen, das man nicht wie Newton zerteilen dürfe. Die prismatischen Farben könnten auch gar nicht im weißen Licht enthalten sein, denn sie seien alle dunkler als Weiß. Farben entstünden vielmehr an den Grenzen  zwischen Hellem und Dunklem, hätten also Licht und Finsternis zur Voraussetzung.

 

Dem Newton gewidmeten polemischen Teil der Farbenlehre liegt ein Missverständnis zu Grunde. Goethe hatte noch nicht wie erst später Hermann von Helmholtz zwischen additiver und subtraktiver Farbmischung unterschieden, er untersuchte ganz andere „Farben“ als Newton; während dieser die These aufstellte von der prismatischen Zusammensetzung der farbigen Lichter zum Weißen, glaubte Goethe Newton dadurch schon wiederlegt zu haben, dass er die gleichen Farbtöne als Pigmente vermischte und eben kein Weiß entstand, sondern ein diffuser Grauton. Dass ausgerechnet das sogenannte „Prismenaperçu“ dem Dichter den Einstieg in ein folgenschweres Missverständnis verschaffte, geht über bloße Ironie hinaus. Goethe sah in Newton schon so etwas wie den Teufel. Der apparativ ausgestattete Forscher war dem Dichterfürsten ein Gräuel: „Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physicalische Apparat den es geben kann. Und das ist eben das größte Unheil der neuern Physik daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat, und blos in dem was künstliche Instrumente zeigen die Natur erkennen, ja was sie leisten kann dadurch beschränken und beweisen will.“ Strikt naturwissenschaftlich eingestellte Forscher wie Emil Du Bois-Reymond konnten wiederum mit dieser anthropologischen Grenzziehung nichts anfangen; hinter Goethes angeblicher ganzheitlicher Einstellung stünde schlicht Technikfeindschaft. Andere Naturwissenschaftler, auch des 20. Jahrhunderts, wie Werner Heisenberg unterstreichen die Modernität Goethes, indem sie daran erinnern, dass ein Untersuchungsgegenstand dem Forscher nicht einfach platt gegenüberstehe, sondern mit diesem eine bestimmte Einheit bilde.

 

Goethes Ausgangspunkt der Beschäftigung mit Farben war seine Frage nach dem jeweiligen Farbkolorit eines Zeichners. Niemand, weder in Italien noch in Deutschland, konnte ihm darauf eine befriedigende Antwort geben. Erst allmählich verstand er, dass es so etwas wie aktive und passive Farben gab, die sich auf einem Bild jeweils harmonisch ergänzen sollten. Alles sei Teil eines allumfassenden polaren Geschehens wie Ausatmen und Einatmen. Nicht ganz so spekulativ wie sein Einstieg in die Farbenlehre durch das Zugrundelegen von Licht und Finsternis ist Goethes Farbkreis, der schon wichtige sinnesphysiologische Positionen späterer Forscher vorwegnimmt. Die von ihm konstatierten Nachbilder des Auges lassen sich terminologisch als Sukzessiv- und Simultankontrast fassen; Goethe interpretierte die Farben, die er physiologische Farben nannte, auch sittlich, indem er ihnen eine ergänzende, reharmonisierende Wirkung zusprach. Dadurch, dass das Auge auf einen äußeren einfarbigen Reiz die entsprechende Komplementärfarbe selbst hervorbringe, befreie es sich damit aus „aus einer ihm aufgezwungenen Lage, indem es sich und seine Umwelt in ein harmonisches Verhältnis setzte und so die Totalität des Farbenkreises im Rahmen einer physiologischen Reaktion vollendete.“ Itten, Klee und Kandinsky werden hundert Jahre später auf solche Überlegungen zurückkommen.

 

Die Aufteilung des Handbuchs in einen Übersichtsteil und einen Lexikonteil bringt es mit sich, dass vieles mehrfach verhandelt wird. Der Ermüdung des Lesers wird aber insofern entgegengearbeitet, als die wiederholten Partien meist in einem anderen Kontext dargeboten sind. Dieses Handbuch dürfte sich aber eher an den Spezialisten auch unter Goethe-Forschern oder den Goethe-Liebhaber wenden, der zum Beispiel gerne etwas mehr über die „Temperamentenrose“ erfahren möchte, über die Goethe gemeinsam mit Schiller „dilettierte“.

 

Dieter Wenk (2-13)

 

Manfred Wenzel (Hrsg.): Goethe-Handbuch Supplemente, Band 2: Naturwissenschaften, Stuttgart-Weimar 2012 (J.B. Metzler)

  

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