13. Januar 2013

Die Evolution der Erkenntnis

  

„Über den Willen zum Wissen“ ist Michel Foucaults erste Vorlesungsreihe als Professor am Collège de France an dem dort eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für die Geschichte der Denksysteme. Hinter ihm liegen seine großen Analysen über den Wahnsinn, die Klinik und die Geschichte der Humanwissenschaften. Mit seiner Antrittsvorlesung am 2. Dezember 1970 unter dem Titel „Die Ordnung des Diskurses“ hatte er nur wenige Tage zuvor einen Begriff geprägt, der bis heute untrennbar mit seinem Namen assoziiert wird. Während Foucault in seiner Inauguralvorlesung noch zögerlich von seiner Angst sprach, einen neuen Diskurs begründen zu müssen, erscheint diese Sorge mit Beginn der regulären Vorlesungen am 9. Dezember wie verflogen. Nicht zögerlich, sondern vollkommen selbstbewusst wendet er sich seinem neuen Thema zu.

Über das Wissen und die Wahrheit will er sprechen, damit an seine bereits geleistete Forschung anknüpfen und diese theoretisch reflektieren. Während sich seine bisherigen Arbeiten an konkreten Institutionen, Disziplinen und Praktiken orientierten, geht er diesmal einen Schritt weiter und stellt eine fundamentale Frage: Wie kommt die Wahrheit in die Welt und woher unser Wille, diese erfassen zu wollen? Um dieses für die Geschichte der abendländischen Welt zentrale Problem zu erörtern, beginnt Foucault im antiken Griechenland mit der Entstehung der Philosophie. 

 

 

Foucault begibt sich mit dieser Suche tief ins Dickicht der Epistemologie, will jedoch keine eigene Erkenntnistheorie begründen, wie dies Platon, Descartes, Kant und viele andere vor ihm taten. Sein Ziel ist es, der Wahrheit, der Erkenntnis und dem Willen zum Wissen eine Geschichte zu geben und die Epistemologie zu historisieren. Er versucht, die Genealogie eines Diskurses nachzuzeichnen, der seinen Beginn in der Abtrennung der Sophistik von der Philosophie nimmt und sich in Folge der großen Umbrüche der griechischen Gesellschaft im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. herausbildete. Foucault spricht über Aristoteles, dessen Schriften er im Verlauf der ersten Vorlesungen förmlich atomisiert; er beschreibt Entwicklungen im Bereich der Gerichtsprozesse, den Zusammenhang zwischen Geldentwicklung und Maßhaltung, zwischen Macht und Reichtum, Wahrheit und Reinheit sowie Ritus und Schuld. Als Ergebnis dieser komplexen Austauschprozesse zwischen Ökonomie, Recht, Politik und Religion habe ein Wandel vom „Machtwissen“ zum „Wahrheitswissen“ (S. 170) stattgefunden. Mittels der Kategorie der Wahrheit wurde die Welt geordnet – religiös, politisch und ökonomisch – und das Profane vom Sakralen, das Mächtige vom Machtlosen und das Arme vom Reichen unterschieden: „Die Wahrheit erlaubt es nun, ausschließen (sic): zu trennen, was auf gefährliche Weise vermischt ist; Inneres und Äußeres gebührend zu verteilen; die Grenzen zwischen Reinem und Unreinem zu bestimmen“ (S. 240). Bemerkenswert ist Foucaults Schlussfolgerung, die in der Wahrheit nicht etwas Absolutes und Überzeitliches, sondern den Effekt einer konkreten historischen Formation vermutet.

 

 

Zusätzliche Reibungspunkte verleiht Foucault seinen Vorlesungen durch die Einbeziehung Friedrich Nietzsches. Für seine radikale historische Dekonstruktion der Wahrheit wird dieser zu seinem Gewährsmann. In ihm findet er seinen Kronzeugen, denn auch Nietzsche lehnt die Vorstellung ursprünglicher und verlässlicher Wahrheiten auf ganzer Linie ab. Der Wahrheit fehle jede Form der Letztbegründung durch etwas Transzendentes oder gar das Subjekt selbst. Mensch und Erkenntnisobjekt befinden sich vielmehr in einem zirkulären Austausch, „wobei beide sich wechselseitig hervorbringen und nur durch eine Illusion miteinander vermengt werden können“ (S. 270). Sowohl „cogitio“ als auch „ergo“ sind historisch kontingente Erzeugnisse eines dynamischen und offenen Prozesses. Sie setzten sich gegenseitig ein, stützten sich, agieren als Garant des anderen und sind dabei stets veränderbar. Der Diskurs über die Wahrheit in seinen vielgestaltigen Formen, seinen Spuren im Politischen, im Juristischen und Religiösen ist damit ein Diskurs, der nicht nur die Wahrheit, sondern auch das erkennende Subjekt hervorbringt. Beide sind diesem Diskurs weder äußerlich noch vorgängig oder strukturieren ihn in seiner Regelmäßigkeit, im Gegenteil: Sie selbst sind dessen Produkte.

 

 

„Über den Willen zum Wissen“ komplettiert die mittlerweile schon sehr umfängliche Reihe der Vorlesungen am Collège de France. Während die bisherigen Veröffentlichungen die Foucault-Rezeption vor allem dadurch prägten, dass sie neben dem schreibenden nun den sprechenden Philosophen präsentierten, hebt sich dieser Band erneut ab. Da es 1970 noch nicht gestattet war, Tonbandmitschnitte anzufertigen, mussten sich die Herausgeber auf Foucaults Manuskript und seine Notizen verlassen. Der Text ist dadurch an vielen Stellen fragmentarisch, immer wieder fehlen Seiten, einige Gedanken sind nicht ausformuliert und nur in kurzen Stichworten aufgeführt. Dies macht die Lektüre anstrengend, aufreibend, aber auch zu einem intensiven Erlebnis. Nicht der schreibende oder sprechende, sondern vielmehr der denkende Foucault wird in diesem Text präsent. Und so lässt sich die von ihm skizzierte Evolution der Erkenntnis beim Lesen auch auf seinen Text rückprojizieren – auch dieser zeichnet eine Entwicklung des Denkens nach. Immer wieder kommt es zu Verschiebungen und unfertige Passagen beginnen sich auszugestalten. Dabei enthält das Manuskript alle Widerständigkeiten und Sperrigkeiten des Vorläufigen, dokumentiert jedoch eine Form der Prozesshaftigkeit, die uns bisher lediglich über ihr Endprodukt bekannt war.

 

 

„Wissen ist Macht“, diese alte Binsenweißheit begegnet uns auch in den Vorlesungen Foucaults, nur dass sie hier immer wieder historischen Umwandlungen unterworfen ist. Wissen kann Stütze, aber auch beschränkendes Gegengewicht zur Macht sein. Wissen kann von einzelnen Mächtigen als Geheimnis gehütet werden oder in den Händen der Unterdrückten zur Waffe werden. Mit der Koppelung dieser beiden Signifikanten verbinden sich auch Foucaults wissenschaftliche Großprojekte: die „Archäologie des Wissens“ und die „Genealogie der Macht“. Die Vorlesungen „Über den Willen zum Wissen“ liegen genau zwischen diesen beiden Bereichen, zeigt deren Übergänge und Brüche, lässt sie wechselseitig interagieren und könnten eine neue Kartierung der Foucault-Forschung ermöglichen.

 

Patrick Kilian

 

 

Michel Foucault: Über den Willen zum Wissen. Vorlesungen am Collège de France 1970–1971, Frankfurt am Main 2012 (Suhrkamp), gebunden, 394 S., 1. Aufl. (11. November 2012), aus dem Französischen von Michael Bischoff und mit einer Situierung der Vorlesungen durch Daniel Defert

 

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