14. Dezember 2003

Die Ordnung der Bücher

 

Zu Johannes Hösles Jugendgeschichte

 

Von Gustav Mechlenburg

 

So wie man auf die verschiedensten Arten Ordnung ins Bücherregal bringen kann: thematisch, nach Verlagen, alphabetisch nach Autor oder chronologisch nach Erwerb. So lässt sich auch auf unterschiedliche Art und Weise auf das eigene Leben zurückblicken. Der emeritierte Professor für Romanische Literaturwissenschaft Johannes Hösle hat an seiner Autobiografie weitergeschrieben. Bereits vor zwei Jahren waren die Erinnerungen „Vor aller Zeit“ erschienen, worin er von seiner katholisch geprägten Kindheit in Oberschwaben erzählt. Nun die „Geschichte einer Jugend“ in den Jahren zwischen 1944 und 1952: der Krieg, der Zusammenbruch des Nationalsozialismus und die Zeit der Umerziehung unter dem Titel „Und was wird jetzt?“ Und nicht untypisch für einen Akademiker hat Hösle entscheidende Phasen seines Lebens mit der Lektüre bestimmter Bücher in Zusammenhang gebracht.

Die Reihenfolge des Lesestoffs verbindet Hösle mit einer ganzen Generation. Von Karl May über Eichendorff bis hin zu Heine, Thomas Mann und Freud. Jede Lektüre hat ihre Geschichte. Teils waren es in Deutschland verbotene, teils nicht verfügbare oder noch nicht in den Kanon aufgenommene Bücher, die dem jungen Hans nach und nach empfohlen oder geschenkt wurden.

Neben den Erfahrungen des Krieges und dem Verlust von Freunden und Verwandten sind es die Bücher, die Hösles Weltbild verändern. „Vom Bittsteller wurde ich zum Fragesteller. Als Folge wurde im Lauf der Jahre aus dem Glauben meiner Kindheit am Ende eines langen und keinesfalls linearen Prozesses eine inhaltsleere Hülse, wurde der persönliche Gott, mit dem ich groß geworden war, zu einem kaum noch wahrnehmbaren Schemen.“

Das von der Mutter vorgesehene Theologiestudium wird denn auch nicht von ihm abgeschlossen. Hösle wendet sich den Sprachen und der Philosphie zu. Dabei führt ihn sein Studium nach Tübingen, wo er der Aura des Dozenten Walter Jens erliegt, den er als Citoyen einer weltumspannenden Gelehrtenrepublik beschreibt, der „entschlossen und unerschrocken gegen Fanatismus und Obskurantismus“ zu Felde zieht. Im Gegensatz zu den von den Franzosen eingesetzten „Umerziehern“ spürt Hösle bei Jens erstmals eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“.

Überhaupt kommen die Franzosen in der von ihm bewohnten Besatzungszone nicht gut weg in seiner Beurteilung. Im Vergleich zu den Amerikanern wirft er der französichen Militärregierung eine zu zügige Abwicklung der Entnazifizierung vor. „Aber wer konnte übersehen, dass der Eifer, mit dem sie sich an die Umerziehung von Menschen machten, die sie fast ausnahmslos vom Nationalsozialismus infiziert glaubten, häufig vom Dünkel erbarmungsloser und bornierter Kolonisatoren diktiert und getragen wurde?“

Um so verwunderlicher sein Interesse für die französische Sprache und Frankreich selbst, das er bald darauf nach bürokratischen Hürden bereisen darf. Eine spätere Reise nach Italien gegen Ende des Buches leutet für den Gelehrten schließlich eine neue Lebensphase ein. Die geografische Ferne von Deutschland, die fremde Architektur und Vegetation gewährt ihm Distanz zur teilweise miefigen Vergangenheit: „Ich war in einer neuen Welt angekommen.“

Alles in allem können die subjektiven Beschreibungen Hösles einige Lücken in unserem Bild von der Nachkriegszeit schließen, manche Schieflage korrigieren. Da sieht man gerne über ein wenig lächerlich anmutende Anekdötchen und Liebeleien hinweg. Am schönsten aber sind die Stellen, in denen er selbstironisch von seinen Verdrängungen berichtet. Beispielsweise als er beim Philosophieexamen gar keine gute Figur abgibt. Dass Wilhelm Weischedel „einen Schöngeist meines Kalibers“ nach der uninteressantesten seiner Schriften, „der vierfachen Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“, befragt, empfindet Hösle als Schikane. „Wie war es möglich, dass meine Prüfer nicht begriffen hatten, was mir Schopenhauer bedeutete, dass seine, wie mir scheinen wollte, schlüssigen Argumentationen doch den Glauben meiner Kindheit zertrümmert hatten.“ Gegen Selbstzweifel hilft nur Offensive: „Ich schloss daher schon bald nicht mehr aus, dass mein scheinbares Versagen bei der Prüfung darauf zurückzuführen war, dass Weischedel die von einem Philosophen zu erwartende und von Sokrates entwickelte Kunst der Mäeutik nicht beherrschte.“

An solchen Passagen wird deutlich, dass Hösle nicht umsonst in die Rhetorikschule eines Walter Jens gegangen ist.

 

Johannes Hösle: Und was wird jetzt? Geschichte einer Jugend. C.H.Beck 2002