31. Dezember 2012

„Rückwendungs“-Lust

 

Niklas Luhmann ist dafür bekannt geworden, von Was-Fragen auf Wie-Fragen umgestellt zu haben. An erster Stelle steht Funktionalität, auch Warum-Fragen lassen sich leicht davon absorbieren. Was macht man mit Wer-Fragen? Wer ist Niklas Luhmann, zum Beispiel. Eine verkappte Was-Frage, und so kommt zwar die Gesellschaft – Luhmanns primärer soziologischer Untersuchungs“gegenstand“ – gleich zweimal vor in seiner funktionalen Strukturtheorie (Die Gesellschaft der Gesellschaft), die Person Niklas Luhmann aber gar nicht.

 

Vermutlich hat in einem Metzler-Handbuch die Biografie einer intellektuellen Persönlichkeit noch nie so wenig eine Rolle gespielt wie in diesem Fall. Das Leben Luhmanns: ein etwas verdickter Lebenslauf. Sicherlich nicht ganz so weltfremd wie die Figur des Kien aus Canettis Blendung, aber doch ein radikaler Bücher- und Textmensch. Und anders als Kant ist er gereist, Aufenthalte in Harvard, Vorlesungsvertretungen von Adorno in Frankfurt/Main, und immer wieder Italien. Man darf sich Niklas Luhmann als einen glücklichen Menschen vorstellen, auch wenn er den Begriff des Menschen bekanntlich abhorreszierte. Noch mehr als sonst liegt der Schwerpunkt dieses bewusst recht kleinteilig angelegten Handbuchs auf Werk und Wirkung. Es versteht sich als „Manual“, „Toolbox“, „Begriffsregister“. Die ausgedehnte Lemmatisierung bewirkt natürlich eine gewisse Redundanz, aber da der Anschnitt immer ein anderer ist, wird damit auch gleich ein zentraler Aspekt der gesamten Theoriearchitektur betont, die System/Umwelt-Relation, die Fatalität gewissermaßen von Relationierung insgesamt, von wandernden Kontexten.

 

Luhmanns berühmter Zettelkasten mag als Symbol dieser Vernetzungsidee dienen. So heißt es über dieses Objekt mit über 90.000 Zetteln: „Das Prinzip des Eintrags in den Zettelkasten selbst orientierte sich nicht an einer letzten Durchdachtheit eines Gedankens, sondern an der Annahme, dass über die Sinnhaftigkeit einer Notiz erst später, nämlich durch die Relationierung mit anderen Notizen, entschieden werden kann“. Die Identität muss einen Umweg machen über die Differenz. Über die Begrifflichkeit des Luhmann’schen Denkens lernt man die verschiedenen Herkünfte seiner konzeptuellen Handschrift kennen, das Wenigste, das sich in seiner Systemtheorie findet, stammt von ihm, wie er all das aber kombiniert, ist ausschließlich seine Leistung.

 

Was sind die Grundlagen von Luhmanns Ansatz? In jeder der zahlreich erschienenen Monografien Luhmanns zu den Subsystemen der Gesellschaft wird immer wieder Wert gelegt auf das Prozessieren von Zeit. Luhmann hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass Husserls Analysen zum inneren Zeitbewusstsein Pate gestanden haben für seine eigene prominente Positionierung von Zeit in seiner Theorie. Eine Leitfrage lautete: Wie kann ein System stabil gehalten werden, wie kann es sich ständig aus seinen eigenen Bausteinen heraus wiedererzeugen, wenn doch alles Prozessieren und Operieren in der bloßen Gegenwart stattfindet. Warum gibt es überhaupt Systeme und nicht bloß nur Zerfall. Antwort auf diese Fragen und andere erhält Luhmann durch Anschlüsse an die Kybernetik (und Heinz von Foersters „Kybernetik der Kybernetik“) sowie an die schon vor Luhmann existierende Allgemeine Systemtheorie. Dass sich die Luhmann’sche Systemtheorie explizit als Evolutionstheorie versteht, wird in einem eigenen Kapitel demonstriert.

 

Insgesamt werden 30 Begriffe erläutert, ohne deren Verständnis man nicht eintreten kann in das Theoriegebäude: Begriffe wie Autopoiesis (bekannt geworden durch Maturana), Doppelte Kontingenz (Parsons), Komplexität, Operation/Beobachtung, Strukturelle Koppelung usw. werden mit ständigem Rekurs auf Luhmanns Texte und Theorie herauskristallisiert; diese Texte sind sehr dicht geschrieben, sicherlich nicht ganz voraussetzungsfrei, aber insgesamt leichter zu lesen als der Meister selbst, der für viele als schwierig zu lesen galt und gilt. Anschließend werden chronologisch Werke und Werkgruppen (einschließlich der Nachlassbände) vorgestellt, und der Leser wird spätestens hier feststellen, dass Luhmann ein unglaublich fleißiger und produktiver Autor war, dem als Gegenstand der Analyse nichts fremd blieb: Er hat es mit allem und allen aufgenommen. Ein weiteres Kapitel widmet sich den Verbindungen und Bezügen zu anderen Autoren (hier findet sich sogar ein Beitrag zu Martin Heidegger, in dem allerdings die Differenzen die Ähnlichkeiten stark überwiegen).

 

Am Ende des Handbuchs wird die mannigfache Rezeption Luhmanns gewürdigt und seine intellektuelle Leistung einer Diskussion ausgesetzt: Kann man sich eine Theorie ohne einen (starken) Subjektbegriff leisten und zumuten? Ist die Systemtheorie nicht bar jeder Empirie? Hat sie kritisches Potenzial? Wie immer man dazu stehen mag: Luhmann zu lesen ist ein echtes intellektuelles Abenteuer, das man, steckt man einmal mittendrin, nicht mehr missen möchte. Seine Systemtheorie ist nicht nur eine Supertheorie, sondern auch eine super Theorie. Einen Vorgeschmack darauf bietet dieses vorzügliche Handbuch.

 

Dieter Wenk (12-12)

 

Oliver Jahraus/Armin Nassehi u.a. (Hrsg.): Luhmann-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart/Weimar 2012 (J.B.Metzler)

 

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