6. November 2012

SOCKENPUPPEN AUS GRANIT


Gute Bücher können nicht lang genug sein, denn jede gelesene Seite bedeutet, dass der Abschied näherrückt. Und dieser Abschied von einer liebgewonnenen Welt mit vielschichtigen Figuren, einem komplexen Gefüge aus philosophischen Gedanken, angespielten Subtexten und unaufdringlich eingestreuten Referenzen kann bei einem gelungenen Werk nur ein vorläufiger sein. Denn sobald der Schmerz verklungen ist, wächst die Sehnsucht, wieder in die Fiktion einzutreten – und das Buch wird ein weiteres Mal rezipiert. Gute Bücher laden zu wiederholten Begegnungen nicht nur ein, sie halten diesen mehrfachen Prüfungen statt und können durch weitere Lektüren sogar gewinnen.

Ich achte jeden Kreativen, der sich der Mühe unterzieht, über Monate oder gar Jahre hinweg ein literarisches Werk zu verfassen. Zum Schutz des Publikums gibt es jedoch einen Filter gegen unsägliche belletristische Ergüsse in der Form von Redaktionen und Lektoraten in den Verlagen. Um ehrlich zu sein: In Buchhandlungen und Antiquariaten gehen zahlreiche Bände gegen Bares über den Tresen, die ich nicht einmal geschenkt haben möchte, weil mir dafür meine Zeit zu kostbar und meine finanziellen Reserven zu dürftig sind. Deshalb muss es gewichtige Gründe geben, damit ich mir solch ein Machwerk grandioser Langeweile antue.

Diese Gründe finden sich im Falle Ayn Rand (1905-1982).

Die Exilrussin floh mit ihrer Familie vor der bolschewistischen Revolution in die USA und begann dort eine Karriere, die mir mit jedem gelesenen Satz unbegreiflicher wird. Ihr Debüt bestand nach der englischsprachigen Wikipedia aus einen dünnen Fanzine über den Filmstar Pola Negri. In den Vereinigten Staaten von Amerika reüssierte sie als Theaterautorin, bevor sie als Statistin und Drehbuchautorin nach Hollywood kam. Dort schrieb sie unter anderem für Cecil B. DeMille, bekannt für seine monumentalen Epen nach biblischen und historischen Vorlagen, bevor ihr mit ihrem dritten Roman The Fountainhead der Durchbruch als Bestsellerautorin gelang.

Ihr Kultstatus liegt jedoch nicht der literarischen Qualität ihrer Werke begründet, weshalb sich ihre Exegeten und Claqueure weniger in der Anglistik und Amerikanistik oder der Philosophie finden lassen, sondern vielmehr unter den Anhängern einer bestimmten Art der Ökonomie und eines rigiden Individualismus, die den Staat verachten. Trotz ihrer Millionenauflagen nahm die krebskranke Ayn O'Connor, wie sie nach ihrer Heirat mit dem Schauspieler Frank O'Connor bürgerlich hieß, in ihren letzten Lebensjahren das Sozialsystem und Medicaid in Anspruch, während sie Empfänger von sozialen Leistungen des Staates generell als „Schmarotzer“ beschimpfte. Im Wahlkampf um das Präsidentenamt ventilierte der Republikaner Paul Ryan zuletzt ihre Sprechblasen und erwies damit Mitt Romney, dem Spitzenkandidaten, einen Bärendienst. Rand gilt als Graue Eminenz der Süßwasserökonomen eines Laissez-faire-Staates, wie er von den Chicago Boys des Neoliberalismus vertreten und durchgesetzt wird, und wirkt mit ihren fiktiven Gestalten wie Howard Roark und John Galt als Patin der rechten außerparlamentarischen Opposition der Tea Party-Bewegung.

Nachdem es in ihren letzten Lebensjahren eher still um sie wurde und das Erbe ihrer Weltanschauung, der sogenannte Objektivismus, durch ideologisch gefestigte Zirkel wie das Ayn Rand Institute (ARI), das Ayn Rand Center (ARC) oder die konkurrierende Atlas Society bewahrt und verwaltet wurde, erhielten ihre Werke im Kielwasser von Reaganomics und Thatcherism wieder Auftrieb. Seit mittlerweile gut drei Jahrzehnten finden sich ihre Romane The Fountainhead und Atlas Shrugged unter den aktuellen Verkaufsbestsellern, zum Beispiel bei Amazon, und sind seither im Abstand von zehn bis fünfzehn Jahren mit deutschen Ausgaben bedacht worden. 2011 wurde ihre Dystopie The Anthem als adaptierte Graphic Novel in den Handel gebracht. Obwohl das ARI jährlich 400.000 Exemplare aus ihrem Fundus kostenlos an Schulklassen in den USA verteilt, empfinde ich die Zahlen aus aktuellen Ranglisten der weltweiten Bestseller enttäuschend: Bei The Fountainhead bin ich in der englischsprachigen Wikipedia auf die Angabe von 6,5 Millionen Exemplaren gestoßen – in 75 Jahren! Claus Leggewie sprach in einem Interview im deutschlandradio kultur von einer Gesamtauflage von 25 Millionen Exemplaren.

Ehrlich gesagt, mich wundert das nicht. Ich kenne Leute in meinem Bekanntenkreis, die nach wenigen Seiten festgestellt haben, dass sie mit Rands Werken nichts anfangen können und die Bücher weggelegt haben. Jede Zeile, jede Seite kostet mich Überwindung, aber weil ich Ayn Rand gelesen haben will, um sie aus meiner eigenen Sicht beurteilen zu können, kämpfe ich mich bis zum bitteren Ende durch. (Zwischendurch habe ich beispielsweise Tolkiens Essayband The Monster and the Critics gelesen; dabei konnte ich mich wenigstens entspannen.)

Ich wollte nämlich selbst herausfinden, inwieweit ihr Ruf gerechtfertigt ist und welches Ethos ihre Romane konkret vermitteln. Meine Lektüre habe ich dabei auf ihre Hauptwerke The Fountainhead, Anthem und Atlas Shrugged beschränkt, auf die ich jetzt in Zukunft als Referenzwerk zurückgreifen kann. Die Werke sind an sich voneinander unabhängig, wegen ihrer gemeinsamen Thematik, sich ähnelnden Motiven und Figurenkonstellationen sowie ihres programmatischen Charakters für die Weltanschauung des sogenannten Objektivismus lesen sich die Texte jedoch wie Selbstplagiate.

Bevor ich mich hier den beiden zuerst genannten Werken widme, kann ich mir ein generelles Urteil über ihre belletristischen Fähigkeiten nicht verkneifen. Weshalb liest sich Ayn Rand zäh? Nach meiner leidlichen Erfahrung rühren ihre eklatanten belletristischen Mängel aus einer Mischung von unterkomplexen Handlungen mit einer bombastisch übercodierten Narration. Sämtliche Charaktere leitet sie dabei aus einer Prämisse ab, weshalb sich sämtliche Figuren auf einer Ebene befinden und es sich fast ausschließlich um Workaholics mit einem marginalen Privatleben handelt. Die meisten Superheldencomics bieten eine überzeugendere Vielfalt von komplexeren, glaubhafteren und realistischeren Figuren, verglichen mit Rand glänzt das abfällig betrachtete Genre durch Authentizität. In ihrem romantischen Verständnis stilisiert Rand das realistische Ambiente zur Kulisse einer quälend langen Soap Opera mit verunglückten, teilweise unfreiwillig komischen Szenen. Ich hätte ihr einen Lektor wie den von Raymond Carver gewünscht, der es gewagt hätte, die Ergüsse auf 250 bis 400 Seiten zu kürzen – dann wären sie wenigstens lesbar geworden.

Obwohl sie sich in ihrer eklektizistischen Philosophie auf den Verstand beruft, in erster Linie auf eine von ihr interpretierte Aussagenlogik von Aristoteles, wiederholt sich Rand unablässig und neigt zum agitatorischen Predigen, wofür sie ihre Figuren als Sockenpuppen nutzt. Unter Schreibenden hat sich der Begriff Mary Sue als Bezeichnung für platte Wunscherfüllungsfiguren von Autoren durchgesetzt, also Figuren, die zu edel, zu genial und zu hübsch sind, um ihr Publikum wirklich überzeugen oder überwältigen zu können. Rands Charaktere sind nichts anderes als Mary Sues, und obwohl die Autorin den Rat des Show, don't tell kennt, neigt sie zu Monologen, die in The Fountainhead bis zu zwölf Seiten lang werden können.

Zahlreiche Seiten reihen Belangloses bis zum Erbrechen aneinander: Falls ein Satz oder Absatz eine Situation pointiert dargestellt hätte, folgen meist noch drei oder vier Seiten, in denen der Inhalt variiert wird und die Handlung einen Kolbenfresser bekommt. Zudem spürte ich, dass Rand der englischen Sprache nicht wirklich mächtig gewesen sein konnte, denn manchmal wählte sie nicht das treffende Wort, sondern eine schwächere Variante. Manche Sentenzen bestehen aus einer bunten Anhäufung von Worten und scheinen sich zunächst gezielt zu steigern, um dann in einer unsäglichen Plattitüde grotesk zu werden. Die rhetorische Figur des Zirkelschlusses feiert fröhliche Urstände.

Dass The Fountainhead ein Bestseller wurde, dürfte an Ursachen gelegen haben, die in Gründen jenseits des Romans zu finden sind. Denn die Hauptfigur von Rands Künstlerroman ist der Architekt Howard Roark, den sie nach dem Modell von Frank Lloyd Wright (1869-1959) gestaltet hat. Und dessen reale Anerkennung dürfte sich zum Zeitpunkt der Erstauflage in der Erfolgsgeschichte des sturen Roark gespiegelt haben, quasi eine Dokufiction avant la lettre. Wer sich mit Wright beschäftigt hat, wird entweder den Roman oder die Verfilmung mit Gary Cooper zumindest zur Kenntnis genommen haben müssen. Faksimiles der bedeutenden Bauten des bedeutenden Architekten werden in dem Schlüsselroman so eindeutig beschrieben, dass sich die Vorbilder leicht zuordnen lassen, ein intellektuelles Puzzle.

Rand variiert das klassische Schema des Amerikanischen Traums, jenes Muster, das durch Horatio Alger im angelsächsischen Raum in gewisser Weise zur obligatorischen Jugendlektüre geworden ist: Die Geschichte eines bewundernswerten, reinen Heroen, der seinen Traum gegen alle Widerstände in die Wirklichkeit umsetzt und dadurch aus kleinsten Verhältnissen in die Spitzen der Gesellschaft aufsteigt. In The Fountainhead betont Rand die genialen Qualitäten Roarks, indem sie ihn mit seinem Kommilitonen Peter Keating kontrastiert und dessen Karriere in der Architekturbranche in den 30er und frühen 40er Jahren. Keatings eigentliche künstlerische Ambition liegt in der Malerei, seine Mutter drängt ihn jedoch zur Architektur, weil sie annimmt, ihr Sohn käme dort leichter nach oben. Ein doppelter Entwicklungsroman ist das allerdings nur bedingt, denn allein Keating entwickelt sich und verliert seine Illusionen über Ruhm, Ehre und Reichtum; das Genie Roark hingegen präsentiert sich als Readymade, das natürlich von der blöden und faulen Masse verkannt und beneidet wird, gegen die er sich durchsetzen muss.

Rand schrieb diesen Wälzer Anfang der Vierziger Jahre und dürfte eine der ersten Autorinnen sein, die sich in ihren Werken (nicht in Interviews oder Essays) explizit auf Superheldencomics bezogen haben. In den fiktiven Presseausschnitten wird mehrmals auf ein demütigendes Foto von Roark rekurriert, das von der süffisanten Frage unterstrichen, ob Superman jetzt glücklich sei. Diese fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten schlagen sich negativ in der Struktur nieder, denn in seiner apodiktischen Kompromisslosigkeit polarisiert Roark unversöhnlich, weshalb er entweder nur bewundert oder aber belächelt und verachtet wird. Die Karriere Keatings beansprucht mehr Raum als die Hauptfigur.

Keatings Weg unter die erfolgreichsten Architekten der amerikanischen Ostküste orientiert sich dabei am klassischen Teufelspakt mit deutlichen Anleihen bei Goethes Faust. Keating hat eigentlich nur seiner Mutter Louisa Keating zuliebe Architektur studiert, weil diese seine Malerei als brotlose Kunst ansah, während das von ihr präferierte Fach einen leichteren Weg an die Spitze bot. Ohne Herzblut fehlt Keating der richtige Biss und die Herausforderungen seines Studiums meistert er nur durch die Zuarbeit seines Kommilitonen Roark, der bei seiner Mutter zur Untermiete wohnt.

Roark wird von seinen verständnislosen Professoren wegen Starrsinns und seiner unorthodoxen Kunstauffassung aus der Universität herausgeworfen, wovon er sich nicht weiter irritieren läßt. Durch ein informelles Netzwerk seiner Alma Mater erhält Keating das verlockende Angebot, in das boomende Büro des Alten Herren Peter Faucon in New York einzutreten, Faucon & Heyer. Die scheffeln ihren Reichtum, indem sie ihren Klienten historisierende oder klassizistische Modevillen errichten. Roark verdingt sich hingegen im schäbigen Büro des gescheiterten Modernisten Henry Cameron, den Roark vergöttert, obwohl der inzwischen zum verwahrlosten Alkoholiker herabgesunken ist.

Den Mephistopheles gibt der Kritiker der bedeutendsten Tageszeitung, Ellsworth Monkton Toohey, eine bösartige Figur, die am liebsten andere grandios scheitern sieht. Durch seine Schadenfreude kompensiert er seine eigene Unfähigkeit, selbst zu reüssieren, durch geschickte Manipulationen seines elitären Zirkels, in dem das (vermeintliche) Mittelmaß gefeiert wird, und tritt dann gnadenlos nach, wenn er die wirklichen Neuerer durch seine Intrigen zu Fall gebracht hat. Mit schwarzem Kraushaar, einem oliven Teint, zartem Körperbau (für männliche Schlägereien und harte Sportarten ungeeignet) und seiner dicken Brille als Strippenzieher im Hintergrund verkörpert er das Klischee eine jüdischen Weltverschwörung, vor allem in den Medien. Seine Haltung zwischen sozialistischen Sonntagsreden und rücksichtslosem Opportunismus ergänzen die antisemitische Pappfigur. Seine philanthropische Catherine Halsey wohnt bei ihm, geht ihm als Sekretärin zur Hand und engagiert sich sozial.

Seine Tiraden und Pamphlete füllen das Feuilleton der Presseerzeugnisse des Tycoons Gail Wynand, der sich zwar aus der Gosse in ein Penthouse über der Skyline des Big Apple heraufgearbeitet hat, aber kreuzunglücklich ist. Die blässliche Kopie von Orson Welles' Citizen Kane ist stolz darauf, kaum Schlaf zu benötigen, und rächt sich an seinen Feinden, indem er ihnen scheinbar Freiraum gewährt. Im verletzlichsten Moment fordert er dann genüsslich den Gang nach Canossa, bricht sie und kauft ihnen den Schneid ab. Wynand ist letztlich eine Variante von Roark, der sein Potential nicht ausschöpfen kann, weil er um die Gunst des Publikums buhlt und sich somit vom gemeinen Volk abhängig macht. Der konservative Unternehmer benutzt Toohey dabei als Spielzeug und amüsiert sich, weil dieser zeigt, dass seine Medien neutral, weltanschaulich unabhängig sowie von jeglicher Parteibindung unabhängig ist.

Peter Keating nennt Catherine Halsey kameradschaftlich Katie (ein passables Gretchen), da er sie seit seiner Kindheit kennt und mag, schätzt sie als Vertraute und denkt eine zeitlang darüber nach, sie zu heiraten – bis er Dominique Faucon begegnet.

Dominique Faucon überstrahlt als dominierende (sic!) weibliche Figur die Handlung. Durch eine Heirat mit der Tochter seines Bosses konnte Keating zum Juniorpartner avancieren, aber die ansonsten eigenwillige und selbstbewusste Dominique verfällt bei ihrem Sabbatical im Hinterland einem geheimnisvollen Fremden. Der ist niemand anders als Roark, der nach seiner ersten Pleite als Architekt, in einem Granitbruch der Familie Faucon angeheuert hat. Sie verfällt seiner athletischen Figur, seinem karottenfarbenen Haar und hellen Augen auf den ersten Blick und wird ihm hörig. Die beiden gehen eine heimliche Beziehung ein, von der sich Dominique auch nicht durch Heiraten abbringen lässt.

Besonders bei ihren ersten Auftritten erscheint Dominique als feministische Ikone, deren Verhalten an die Flapper erinnert, die emanzipierten jungen Frauen der 20er und 30er Jahre in Amerika, die als Brinkley Girls oder Gibson Girls stilisiert werden. Der Bruch in ihrem Charakter tritt zutage, als sie allein in ihrem Landhaus einen Schaden an ihrem Marmorkamin fingiert, damit sie Roark verführen kann. Dabei übernimmt jedoch der Granitarbeiter die Kontrolle und vergewaltigt die Höhere Tochter, die sich ihm fortan bedingungslos unterordnet. Für Rand sind eben nur Männer vollwertige Menschen, und Frauen haben sich ihren Herren zu unterwerfen. Ich kann mir viele Leserinnen vorstellen, die bei der Vergewaltigung das Buch angewidert beiseite legen. Die feministischen Zeitgenossinnen Rands jedenfalls haben sich darüber entrüstet und ihr Buch deswegen als antifeministisch bezeichnet.

In ihrer Humorlosigkeit erinnerte mich das Verhältnis von Dominique Faucon zu Howard Roark weniger an ein vergnügliches Lubitsch'sches Dreieck, sondern an eine schwer verdauliche Mischung zwischen einem (erzkapitalistischen) Helden der Arbeit und dem Wildhüter aus D.H. Lawrences Lady Chatterley's Lover. Rands eigenwilliges meritokratisches Konzept von menschlichen Liebesbeziehungen steht schräg zum altmodisch-reaktionären Verständnis der christlichen Rechten, die wohl beide Augen gnädig zudrücken müssen, um darüber hinweg zu sehen.

Warum sind nun so viele Menschen fasziniert von Ayn Rands objektivistisch verklärtem Hochamt eines rücksichtslosen Egoismus? Ihre Fans finden sich in sämtlichen Schichten der Gesellschaft, auch unter denjenigen, die eigentlich nur die Nachteile einer solchen Politik zu tragen hätten. Was versprechen sie sich Rands Weltanschauung?

Dafür gibt es meines Erachtens mehrere Gründe.

Sicher, es gibt in Rands Werk zahlreiche Erben der Oberen Zehntausend, aber nicht nur. Besonders The Fountainhead stellt einen kompromisslosen Künstler als ehrgeizige Ich-AG in den Mittelpunkt, der sich im Granitbruch mit einem Arbeiter befreundet. Dieser bewundert ihn, weil sich Roark bei der Lösung von Problemen über Traditionen und Vorschriften hinwegsetzt, wenn er pragmatisch unorthodox vorgeht. Darin steckt das Versprechen, jeder könne es an die Spitze seiner Zunft schaffen. Weil Roark unter keinen Umständen bereit ist, Abstriche an seinen Entwürfen vorzunehmen, ist er weder für Kritik noch für Selbstkritik zugänglich. Der Deus ex machina schwebt über jeglichen Argumenten und hat natürlich immer recht.

Roark inkarniert den Individualismus in seiner radikalsten Weise, der sich ständig allein im Krieg gegen die gesamte Gesellschaft befindet. Sein Künstlertum präsentiert sich hier über jeglicher Demokratie als martialische Autokratie, die er zur Not auch mit Sprengstoff durchsetzt. Dass er pars pro toto eine bessere Spezies Mensch darstellt, belegt ein weiterer erzählerischer Text Rands mit Manifestcharakter: Anthem.

Rand erreichte in ihrem Künstlerroman irgendwann einen toten Punkt, was mich nicht weiter verwundert. Um ihre Schreibblockade zu lösen, verfaßte sie eine Dystopie in zwölf Kapiteln, in denen sie den Alptraum einer Zukunft ausmalt, in der Individualität ein Verbrechen ist.

In diesem Ameisenstaat wächst der neugierige und vorlaute Junge Equality 7-2521 auf, der bei seiner Konditionierung alles mögliche infrage stellt. Er träumt von einer Karriere als Wissenschaftler, in denen er die hehren Ideale von Brüderlichkeit und Fortschritt verwirklichen könnte. Anpassung wird allerdings höher geschätzt, und zur Strafe wird der renitente Equality 7-2521 in eine Kolonne zum Straßenkehren berufen. Beim Laubfegen entdeckt er eines Tages eine Ruine aus der verschwiegenen Vergangenheit. Während er sich in seiner kargen Freizeit dorthin absetzt, entdeckt er die Glühbirne durch Bastelei und alte Bücher neu.

Eine verwandte Seele findet er hinter einer Hecke auf den Feldern. Dort säen und ernten junge Frauen Getreide, darunter eine blonde, helle Frau, in die er sich verliebt. Die beiden vertrauen einander an und gestehen sich ihre individuelle Liebe, mit der sie gegen die Regeln des anonymen Staates verstoßen. Sie akzeptieren ihre Individualität, indem sie sich gegenseitig einzigartige Namen verleihen: Equality 7-2521 nennt seine Liberty 5-3000 Golden One (die Goldene), während sie ihn The Unconquered (der Unbesiegte) nennt.

Equality 7-2521 hat seine Naivität noch nicht komplett verloren und hofft auf einen Kongress der Wissenschaftler in seiner Stadt, in der er seine Erkenntnisse präsentieren will. Diese Experten sind aber seinen Argumenten und Erfindungen nicht zugetan, vielmehr verdammen sie den Häretiker, der bei ihnen eingedrungen ist. Equality 7-2521 flüchtet vor seinem Todesurteil mit seiner Goldenen in die unbefestigten Wälder, vor denen sich seine dekadenten Zeitgenossen fürchten. In einer Berggegend finden die Flüchtlinge eine verwilderte Blockhütte auf einem Gipfel, die sie wieder bewohnbar machen. Dort findet der Unbesiegbare weitere Bücher, durch deren Wissen er seinen Triumph feiern kann. Er wählt sich Prometheus zu seinem neuen Namen, sie Gaea zu ihrem.

Rands Hymne an die Individualität wird nicht zuletzt wegen der Nummern häufig mit Jewgenij Samjatins Wir oder George Orwells Nineteen-Eighty-Four verglichen. Was die grobe Genrezuordnung betrifft, mag das stimmen. Rands Bildvokabular mit einem blonden Heldenpaar gemahnt besonders in der Kombination mit ihrem bäuerlichen Bildvokabular an Blut-und-Boden-Idyllen.

Rands sogenannter Objektivismus erweist sich als Ablenkung. Ihre vermeintliche Vernunft möchte sich zu gern als Pragmatismus jeglicher Ideologie verstehen, in ihrem geschlossenen System für das gesamte menschliche Leben kippt ihre Weltanschauung jedoch in einen totalitären Ökonomismus um. Die Kommunistenfresserin verabscheute den Faschismus in ihren Reden ebenso wie jegliche Art von Organisation. Sie wollte anscheinend nicht wahrhaben, wie sehr sie ihren Feinden glich.

Der letzte Grund für ihren Erfolg dürfte in ihrer nichtrealistischen Erzählweise liegen, durch die sie eine Mythologie des Kapitalismus und der Vereinigten Staaten von Amerika als dessen Gelobtem Land geschaffen hat.

Britta Madeleine Woitschig (07-10/12)

Zweiter Teil: Fünfzig Schattierungen von Granit

Ayn Rand: The Fountainhead, London: HarperCollinsPublishers 1994 (erstmals veröffentlicht 1943), 670 Seiten, ISBN 0-586-01264-8

Ayn Rand: Anthem, Project Gutenberg online (erstmals veröffentlicht 1938)

http://www.gutenberg.org/ebooks/1250/

 

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