12. Dezember 2003

Die schöne Welt der drei Punkte

 

Céline war nie ein Meister des langen Satzes. Dafür hatte man Proust. Die letzten, postum veröffentlichten Bände der „Recherche“ trennten gerade mal fünf Jahre von Célines Erstling, der „Reise ans Ende der Nacht“. Schon dort gingen die Sätze kaum mal über eineinhalb Zeilen. Aber die Seiten war noch nicht durchlöchert von den drei Punkten. Sein zweiter Roman, „Tod auf Kredit“ von 1936, nimmt eine Mittelstellung ein. Anders gesagt, man wohnt der Erfindung eines Prinzips bei. Die ersten Seiten bieten ein geschlossenes Satzbild. Der Erzähler, von Beruf Arzt, erzählt ein bisschen aus seinem gegenwärtigen Leben, Nachbarn, Patienten, Berufskollegen. Das Milieu ist arm, ja trist, schäbig. Schnell landet der Icherzähler in seiner Kindheit. Das Milieu bleibt, wird aber jetzt in seiner ganzen Tristesse entfaltet. Das Wort entfalten muss man etwas in seinem Sinn verschieben. Der lange Atem bleibt, aber er ist durchstoßen von irritierenden Kleinstmosaiken, die das atmen zum röcheln machen. Kein Zufall, dass der erste, etwas längere Gebrauch der drei Punkte einem Fiebertraum gewidmet ist.

Eine Art Geburtsmoment des Hechlers Céline. Das Hecheln wird immer mehr zunehmen, der Fiebertraum als Albtraum zum Grundgerüst des Lebens. Man könnte auch sagen, dass die syntaktisch insularen Verhältnisse seiner eher dicken Romane sich zum eigentlichen Konstruktionsprinzip eben nicht auswachsen, sondern komprimieren. Alles hat Platz, um in der Sprechblase eines Comic zu landen. Nicht zu unrecht. Aber auch nicht völlig. Es müsste eine wunderbare Aufgabe für einen Zeichner sein, die Bilder zu erfinden für die oft monomanische Haltlosigkeit der Sprache. Aber schwierig. Denn die drei Punkte sind nicht einfach Dekor. In den wenigsten Fällen muss der Leser wirklich etwas auffüllen, was sich nicht sagen ließe. Darum geht es nicht. Céline sagt alles. Es ist das Tempo, und es ist das gleichzeitige Schweben – symbolisch angezeigt durch die drei Punkte – aufgrund der zertrümmerten Subjekt-Prädikat(-Objekt)-Struktur.

Schon hier angedeutet, mehr aber in seinen späteren Romanen, emanzipieren sich die Syntagmen, lösen sich vom registrierenden Erzählerich-Bewusstsein, das sich durch das Zerhackerprinzip selbst perforiert (wunderbar vorgeführt auf den ersten Seiten der „Féerie pour une autre fois“), hinzu kommt die Argotisierung der Sprache, und man stellt als Leser fest, dass man da was wirklich Einmaliges in der Hand hat. Schwierig also für den zukünftigen Comiczeichner (aber selbst Proust ist schon in den Comichimmel aufgestiegen), aber nicht unmöglich. Thematisch drängt sich eine Verzeichnung dieser Romane von selbst auf. Krasse Verhältnisse, Figuren, deren Charakter sich nicht ändert, Stehaufmännchenpanoptikum, Krieg zwischen allen Parteien, die Hölle in der Familie, Lüge und Hass zwischen Ehegatten, Fäkalsprache und gewisse Geruchspräferenzen sowieso. Als Manga könnte man sich wunderbar diese Schiffsüberfahrt von Frankreich nach England vorstellen, während der eigentlich nur gekotzt wird. Aber das ist sehr lustig zu lesen.

Erzählt wird also die Geschichte des jungen Ferdinand, der seinen armen Eltern nur Kummer bereitet, nicht redet (dafür ausgiebig erzählt), keine Arbeit findet oder sofort wieder entlassen wird, nach England geschickt wird, wo er englisch lernen soll, aber auch dort sich nur rumtreibt und nicht spricht. Zurück in Paris, schlägt er seinen Vater fast tot und bleibt eine Zeit lang bei dem verständnisvollen Onkel Edouard. Dann passiert ein Wunder. Auf der knappen Hälfte des Romans taucht eine neue Figur auf, Roger-Marin Courtial des Pereires, seines Zeichens Erfinder und Autor hunderter populärwissenschaftlicher Bücher und Abhandlungen. Man glaubt es erst gar nicht, was so eine Figur in einem Céline’schen Roman zu schaffen hat. So viel Idealismus, Schaffenskraft, Renommee. Der Zweifel liest mit. Natürlich. Und mit Recht. Ferdinand bekommt eine Anstellung bei Courtial –allerdings just in dem Moment, als es den Bach runtergeht mit dem großen, bekannten Mann. Über mehrere hundert Seiten bekommt der Leser die Demontage einer Person vorgeführt. Nicht alles war Gold, was glänzte. Hatte man es am Ende nur mit einem Scharlatan zu tun? Oder war Courtial ein Opfer der weiter gehenden technischen Erfindung, die einen Mann wie ihn nicht mehr brauchte? So viel Aberwitz war selten wie in diesen Schilderungen. Am Ende leidet man mit den Figuren richtig mit. Trotz oder gerade wegen der drei Punkte. Sie lassen einen nicht mehr los. Sie schütteln einen durch. Und man merkt: Das Elend der Welt ist nicht das Elend der Literatur.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=1>Céline, Tod auf Kredit, Reinbek bei Hamburg 1963</typohead>