7. Oktober 2012

Der Wanderer und die Legende


Wir wissen nicht, woher er kam, noch, wohin er zuletzt gegangen sein wird, wir als Leser wissen nur, was er ist, nämlich ein Reisender, oder vielleicht genauer, ein Wanderer. Denn dort, wohin dieser namenlose voyageur reist, gibt es keine modernen Verkehrsmittel, die er auch gar nicht vermisst. In welcher Zeit trägt sich der Besuch in den Bildhauergärten, so der Titel dieses Buchs, zu? Jede Anspielung auf irgendeine historische Zeit scheint peinlichst vermieden. Sprachprobleme scheint es nicht zu geben, über verschiedene innere und äußere Grenzen sprechen alle Figuren das gleiche Französisch, das sich keine Ausflüge in die Umgangssprache oder den Argot erlaubt. Die Landschaft? Man wird kein reales Äquivalent finden, und es ist sonderbar genug, was es allein mit den Gärten der Statuen auf sich hat. Und weil alles so fremd ist für den Wanderer (und den Leser), steht am Anfang eine veritable Führung durch die „Domäne“, in der sich der Wanderer zunächst befindet.

 

Ein guide, immer wieder ergänzt durch den doyen des Areals, klärt den Fremden zunächst über das Sichtbare auf, die sonderbaren Statuen, die von sich selbst aus wachsen. Die Statuen werden von „Gärtnern“ beschnitten, und zwar nicht nur ein für allemal, sondern entlang des Wachstumsprozesses. Alle Figuren zeigen menschliches Antlitz, man ist definitiv nicht im 20. Jahrhundert der Freigabe der Figur. Ist der Wachstumsprozess abgeschlossen, werden die Statuen deplaziert und, wenn möglich, verkauft. Die beiden Führer sind sehr freundlich, alle drei verfügen über die ganze Registratur höflicher (fast könnte man sagen: höfischer) Gesprächskultur. Das schafft Platz für alle möglichen Aussparungen. So fällt dem Reisenden irgendwann auf, weder auf eine Frau gestoßen zu sein, noch in den Berichten etwas über das Schicksal von Frauen erfahren zu haben. Das kann kein Zufall sein.

 

Das Los der Frau (als Geschlecht) ist der Schlüssel zu diesem unabgeschlossenen Buch, das weniger eine Geschichte der Emanzipation liefert, als dass es sukzessive einen Aktionsraum konstruiert (in zeitlicher Analogie zum räumlichen Wachsen der männlichen Statuen), von dem aus eine Befreiung erfolgen könnte. Was vom Wanderer zunächst als Chronik der Sitten und Gebräuche der „Gärtner“ geplant ist, wird mehr und mehr zum vermutlich scheiternden Versuch, den sich wahrscheinlich irgendwann überschlagenden Ereignissen noch Herr zu werden, denn was sich im Laufe der Geschichte abzeichnet, ist die große Wahrscheinlichkeit von Krieg, und zwar eines totalen Krieges. Nicht alle Gärtner sind so auskunftsfreudig wie der Führer und der Älteste, und nicht alle Domänen schauen so aus wie die erste, die der Wanderer zu Gesicht bekam. In allen aber sind die Frauen versteckt. Sie gärtnern nicht, sondern sind zu Hause, kümmern sich um das Essen und die Kinder. Es gibt strikte Heiratsregeln. Es ist die Domäne, die über die Heirat bestimmt, nicht das „Herz“ von Verliebten. Ökonomische Gesichtspunkte gehen über Gefühlslagen. Und wenn ein Mädchen nicht verheiratet werden kann, wird es als Prostituierte in dafür vorhergesehene „Hotels“ gebracht.

 

Und immer wieder ist die Rede von einem  Mann, den die Gärtner zu einer Legende ausgebaut zu haben scheinen: Ein „Chef“ entsteht, zumindest in den Köpfen der Leute, der in den Steppen leben soll. Es entstehen Gerüchte. Man munkelt von einer neuen Ordnung. Sind die Domänen der Gärtner in Gefahr? Plant der legendäre Chef eine Revolution? Aber warum? Am neugierigsten ist aber der Reisende, der sich auf den Weg in die Steppen macht. An einem eigenartigen Ort sieht er in der Ferne drei Reiter, einer davon, mit blondem Bart, nackt auf seinem Pferd. Der Reisende ist fasziniert, denn obwohl er die drei noch nie vorher gesehen hat, heißt es: „... einer Sache aber war ich sicher: Das war ein Chef.“ Intuition? Projektion? Eine entfernte Begegnung mit der Legende? Etwas später begegnen sich die beiden wirklich. Der Wanderer erfährt, dass der Mann mit dem blonden Bart des öfteren diesen seltsamen Ort besucht. Aus Notwendigkeit? Aus Laune? Der Bärtige gibt das eine für das andere aus. Der Wanderer fragt: „Das Privileg eines Chefs?“

 

Offenbar hat der Wanderer einen sensiblen Punkt erreicht, denn der Bärtige zieht sich in sich selbst zurück. Hat er nur zu gut verstanden? Etwas später erzählt der Bärtige seine Geschichte, und Geschichte im modernen Sinn des Wortes setzt genau hier ein. Der Bärtige als junger Mann wehrte sich nämlich dagegen, dass seine Schwester zu einer Prostituierten gemacht werden sollte. Vor der Versammlung  seiner Domäne hält er eine Rede voller Hass, er beleidigt seine Welt. Dann verlässt er die Domäne mit einer Schar junger Männer – was gleichbedeutend ist mit Verrat an der Gemeinschaft – und flieht in die „Steppen, um dort einen mysteriösen Chef aus unseren Ländern zu treffen.“ Nach dem Aufbruch der kleinen Schar bricht die traditionale Gemeinschaft sukzessive zusammen, die Domäne verwildert. Immerhin ist der Reisende erfolgreich, er hat einen Chef kennengelernt, der sich ebenfalls auf die Suche nach der Legende gemacht hat und, wie der Bericht des Bärtigen zeigt, jenen „Chef“ tatsächlich getroffen hat. Er dient diesem zunächst als Sklave, aber er macht auf sich aufmerksam und wird zuletzt als Adoptivsohn aufgezogen.

 

Erneut gibt es ein Gespräch über jenen legendären Chef, diesmal zwischen dem jungen Bärtigen und dem, von dem der Bärtige vermutet, jene Legende  zu sein. Erneut wird die Chef-Frage gestellt, und wieder bricht der Befragte abrupt ab. Anders als bei dem ja erst später sich ereignenden Gespräch zwischen dem Reisenden und dem Bärtigen kommt es zum Kampf. Der Bärtige erweist sich als der Stärkere: Er hat die Legende besiegt. Um sie fortzusetzen. Die „Übergabe“  erfolgt ganz formell: Der Besiegte sagt, nach dem Kampf: „Dieser Chef, dessen Legende bei den Gärtnern im Umlauf ist, das bist Du.“ Der neue Chef, ein Produkt aus dynastischem Prinzip und Gewalt, hat, anders als vielleicht sein Vorgänger, einen Plan. Inmitten der unsicheren, tückischen, äußerst gefährlichen Bedingungen des Lebens in den Steppen, wo Clans und Nomadenstämme sich bekriegen, nimmt ein Eroberungsfeldzug Gestalt an. Aus der „Föderation der Nomaden“ soll eine „einzige Nation“ werden, ein Reich, eine „neue Zivilisation“, eine „totale Herrschaft“. Wenn es sein muss (und es muss sein) mit machiavellistischen Mitteln.

 

Nachdem der Wanderer es abgelehnt hat, in den Diensten des „Prinzen“ (also des neuen Chefs) als Geschichtsschreiber zu arbeiten, kehrt er zurück zu den Gärtnern, die sich seine Begegnung mit der Legende erzählen lassen. Er sei verführerisch, so der Reisende, „groß, schön, intelligent. Und einigen Kummer verbergend, was ihn interessant macht. Und schließlich ist er sehr gefährlich.“ Für die Domänen. Sind die Domänen für einen Kampf gerüstet, bereit für einen Krieg? Der Bericht des Wanderers wird jedenfalls ernst genommen. Man beginnt, sich zu wappnen. Zur Entscheidungsschlacht zwischen Gärtnern und Nomaden kommt es nicht, denn davon ist in diesem Buch nicht mehr die Rede. Der Krieg, so könnte man resümieren, wird Produkt eines internen Betriebsfehlers, der irgendwann von jemandem als ein solcher Fehler festgestellt wurde. Eine bislang funktionierende Einheit geht zugrunde und treibt den Widerspruch aus sich heraus. Der Widerspruch kehrt als Chef zurück. Und dann? Dann werden ehemals legendäre Chefs legendäre Fehler produzieren, das heißt, sie werden sie selber begehen, aber sie werden sie auch als solche hinstellen in dem Sinne, dass sie an sie gebunden sind. Aber das ist schon Spekulation. Und längst ist der Wanderer auf seinem Weg durch die Gärten und die Steppen selbst ein Held geworden. Wird auch er zu einer Legende  werden?

 

Dieter Wenk (09-12)

 

Jacques Abeille: Les jardins statuaires, Paris 2012 (Gallimard; 2010 Éditions Attila)

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