17. September 2012

Sweet 15

 

Charlotte Ueckert, 1944 in Oldenburg geboren, schreibt Prosa und Gedichte. Ihr erster Lyrikband erschien 1979. Sie veröffentlichte u. a. auch ein Porträt über Niki de Saint Phalle bei Philo Fine Arts und eine Duografie über Margarete Susmann und Else Lasker-Schüler.

Ihr neuer Erzählband „Nach Italien“ enthält 18 Geschichten auf über 192 Seiten. Die erste der beiden längeren Storys spielt in Italien, die zweite in Finnland.

Im 40-seitigen „Finnlandsommer“ wird man Zeuge, wie eine junge Icherzählerin qualvoll und langsam die Annäherung an einen jungen Mann namens Esko erlebt – mit all ihren Zweifeln, ob ihre Liebe erwidert wird. Auch weil sie sich ihm noch nicht ganz hingeben kann, da sie Angst vor der körperlichen Liebe hat, und weil Esko älter ist. In der Heimat hat die Icherzählerin schon einen Freund. Aber hier, in den Sommerferien in einem fremden Land, sind die Gefühle aufregender, echter, leidenschaftlicher und intensiver. Spielerisch leicht gelingt es Charlotte Ueckert, die Bewegungen des sich umwerbenden Paars inmitten anderer Pubertierender zu zeichnen. Und die Bewegungen der menschlichen Seele einzufangen und den Platz, den Liebe braucht, um sich zu entfalten. Das Drama des Abschiednehmens wird spannend und glaubhaft inszeniert. Es ist, als stürbe alle Liebe für immer, wenn man sie nicht jetzt ergriffe. Und der Schmerz, die bittere Ahnung, eine Liebe nicht leben zu können, weil sie über die Distanz vielleicht nicht aufrechtzuerhalten ist, macht das Ende dieser Geschichte zu einem regelrechten Liebeskrimi.

In „Das einfache Leben“ gestaltet sich das Dasein in einer Billig-Hütte in Norwegen schwieriger als gedacht. Die Landschaft übertrifft zwar die Katalogankündigung, ersetzt aber nicht das fehlende fließend-warme Wasser und das elektrische Licht. Die Trockentoilette wird von den Reisenden als noch akzeptabel empfunden, wenn der Wind sich nicht dreht. Aber der Dauerregen und der schwer kranke, schnarchende Mitreisende, ein Schwager, der unvorhergesehenerweise das größere Zimmer mit dem breiten Doppelbett für sich beansprucht, sowie die dünnen Wände, nein, das überstrapaziert Carlas gute Laune doch. Ihr Mann breitet den aufgestauten Groll aus drei Ehejahren vor seiner Schwester aus, während sich Carla mit deren kranken Mann verbündet. Der aber hat nichts mehr zu melden. Die Kinder der großen Schwester tun ihr Übriges, um keine Harmonie aufkommen zu lassen.  Als sich die Norwegen-Urlauber ein Jahr später unfreiwillig auf einer Nordseeinsel wiedertreffen, um den gestorbenen Kranken zu beerdigen, sagt der Ehemann zu Carla, dass er sie nun nicht mehr braucht. Am Tag darauf bringt das Wandern im Watt unerwartet sinnliche Erlebnisse: Das Grab liegt ruhig im Abendlicht, die dramatischen Worte des Pastors sind verklungen, der Wind hat sich gelegt und die Blumenkränze auf dem Urnengrab sind voll erblüht, die Dinge neu geordnet und die Seelen der Reisenden scheinen einen sonderbaren Frieden gefunden zu haben, den nur der Tod mit sich bringt.

Das ist schlicht, aber pointiert erzählt, da blättert der Lack jeder Urlaubskulisse auf zart-morbide Art ab und lässt wahre Beweggründe klar werden. Scheinbar nebensächliche Details wachsen im Ueckert´schen Arrangement zu Symbolen und Metaphern heran, an denen Lebenslinien zerschellen oder gewendet werden.

 

In „Die doppelte Einmalige“ erzählt Ueckert die amüsante Geschichte der Sybille, einer auf dem Straßburger Münster abgebildeten Figur. Der Bildhauer, ein Fraueneroberer, will sie doppelt in Stein meißeln. Einmal für das Münster und einmal für sich als verkleinertes Modell. Es gelingt ihm aber nicht, wie bei anderen Frauen, ihren Geist und ihre Seele einzufangen, denn Sybille gibt nicht dem Bildhauer ihre Energien, sondern ihrem Tagebuch, das sie auf Endlostuch stickt.  Ein Zweikampf zwischen Meißel und Nadel beginnt. Der Bildhauer als Verführer törichter Jungfrauen hat das Nachsehen.

In einer kurzen Geschichte tritt sogar Michelangelo auf, der bei Gewitter in einer Hütte absteigt und dort von einem fast zahnlosen Männchen und einer engelsgleichen jungen Frau aufgenommen wird. Michelangelo bringt die schöne Frau zur Familie eines früheren Auftraggebers, der seine Schulden bei ihm nicht bezahlt hat. Doch dass der vom Künstler geschaffene Kopf von einer Kaminecke fiel und den Porträtierten erschlug, wird Michelangelo übel angerechnet …

In „Die Stadt der Scherenschleifer“ breitet Charlotte Ueckert ganz beiläufig ein Leben aus, angestoßen durch einen ungebetenen Besucher, der die Hausfrau Marion aus ihrem Alltagstrott klingelt. Marion glaubt, den Schleifer von irgendwoher zu kennen, kramt in ihren Erinnerungen und versucht krampfhaft, dessen Gesicht unterzubringen und mit dem richtigen Ereignis zu verknüpfen. Er entpuppt sich als Jugendsünde aus dem STARCLUB oder dem TOP TEN und ist noch immer für eine Nummer gut – eine Stunde, die ein Leben verändert. „Genügt doch“ ist die Meinung des Scherenschleifers.  Das ist salopp erzählt, kurz und bündig, und gerade deshalb prima auf den Punkt gebracht.

Sweet 15 statt 17: Die meisten Girls in den Geschichten sind 15 Jahre alt, im Übergang vom Mädchen zur Frau.

Diese spielerisch leicht erzählten Liebesgeschichten gelingen Charlotte Ueckert so gut, dass man diese Erfahrungen, die ihre Protagonisten in allen Altersklassen machen, miterleben kann. Sie versteht es, dass sich der Leser in die Figuren verliebt, ihnen nah ist und ihnen Glauben schenkt. Das ist wunderbar. Man geht auf Erinnerungsreise durch anderer Leute Leben und kommt sich und seinen Emotionen wieder selbst ein Stück näher. Intimität erzeugt die erfahrene und lebenskundige Autorin Charlotte Ueckert in ihren unaufdringlichen, unaufgeregten Geschichten, die gerade darin ihre Größe entfalten. Oft schimmert Lyrisches durch die Prosa hindurch, die Zartheit des Gefühls vermittelnd, dessen Flüchtigkeit und Zerbrechlichkeit einfangend, auf leisen Sohlen dem Wesen der Liebe auf der Spur. 

Carsten Klook

 

Charlotte Ueckert: Nach Italien. Liebesgeschichten von anfangs und später, Pop Verlag 2012

 

Charlotte Ueckert stellt am Sonntag, den 30. September, im Literaturhaus Hamburg ihren ebenfalls neuen Gedichtband „Mitlesebuch 104“, erschienen im Aphaia Verlag, vor.