6. September 2012

Wellenreiter

 

„Die Rolle des Historikers – und wir dürfen ergänzen: auch die des Künstlers – ist mithin als die eines Seismographen zu charakterisieren, dessen Aufgabe es ist, im Studium der Geschichte das Beben leidvoller Vergangenheiten zu empfangen.“ Übertragen in seinen gut erkennbaren „Aalsuppenstil“, hätte dieser Satz auch problemlos von Aby Warburg stammen können, der sich wie kaum ein anderer als Empfangsstation „pathologischer“ Wellen verstanden hat. Und in der Tat findet man dieses Zitat Uwe Fleckners in dem Abschnitt „Leidschatz und Mnemosyne“, der dem Hamburger Privatgelehrten und Kulturwissenschaftler gewidmet ist. Wie jenes Beben verarbeitet wird, ist Sache des jeweiligen Historikers und Künstlers. 

Es verwundert deshalb nicht, dass man in dieser losen Aufsatzsammlung des Leiters des Warburg-Hauses in Hamburg ein Kapitel findet zu Picassos Guernica (1937), in den Augen Fleckners das bedeutendste Kunstwerk des 20. Jahrhunderts. Die Pointe Fleckners: Bei aller Leidbetontheit des Bildes, bei all dem Grauen, das man auf diesem Monumentalgemälde sieht, komme man nicht umhin, es eben auch als ästhetisches Gebilde wahrzunehmen. Dieses Bild diene sich niemandem an. Es stehe für sich und könne nicht verbucht werden als geleistete Trauerarbeit, in der es sich erschöpfe: „In der Tat marschiert der Künstler mit seinem Gemälde fest an der Seite der Spanischen Republik und ihrer Verteidiger... Aber Picasso ergreift auch die Partei der Malerei und ihrer Leistungsfähigkeit: Malen ist für ihn, und das nicht nur im Fall von Guernica, ein politischer Akt.“ 

Es finden sich in dieser Aufsatzsammlung aber auch Beispiele künstlerischer Positionen, die den Warburg’schen Pfad der „Pathosformel“ verlassen und sich ganz auf die ästhetische Grundgesetzlichkeit der Kunst beziehen: Das Spiel der Kunst mit sich selbst, leichte Experimente, die im Werk oder Werkansatz ergebnishaft überprüft werden, oder auch der Versuch einer Axiomatisierbarkeit von Kunst mit nicht vorhersehbaren Seherlebnissen. So heißt es etwa mit Blick auf die Künstlerin Monika Brandmeier: In ihren Zeichnungen „werden nicht nur die materiellen und technischen Grundlagen des Zeichnens erforscht, es werden die Voraussetzungen künstlerischer Arbeit überhaupt, es werden ästhetische Prinzipien in den Blick genommen und für den Betrachter anschaulich gemacht.“ Politische Ikonografie wird man hier vergeblich suchen. Aber auch Gerhard Richters Glasarbeit Schwarz Rot Gold aus dem Jahr 1998 (Berlin, Reichstagsgebäude) sei keineswegs zu verstehen als tumbes Bekenntnis zur deutschen Nation, sondern appeliere vielmehr an die „ästhetische Erfahrung“. 

Das muss Humor oder gar Scherz überhaupt nicht ausschließen. So findet der aufmerksame Leser in dem bezeichnenderweise „Kuckucksräume“ überschriebenen Teil der Aufsatzsammlung Fleckners ein Zitat aus einem Werk mit dem Namen La Jalousie, das den Aufsatz „Kuckucksräume“ einleitet, Betrachtungen zum Werk Veronika Kellndorfers. La Jalousie? Das war doch ein kleiner Roman Alain Robbe-Grillets, Mitbegründer des Nouveau Roman? Genau, da steht ja auch der Name des Autors. Aber 1975? Falsches Datum. Blick zurück zum Autor: Da steht: Robert-Alain Gilblé. Das ist natürlich ganz im Sinne des Erfinders (Robbe-Grillet), dieses schöne permutative Spiel. Und auch das Zitat selbst: Es hätte von Robbe-Grillet sein können, aus La Jalousie, ist es aber nicht. Oder doch? (Nein, vielmehr  feiner Medienwechsel von Zeichnung zu (unmöglicher) Fotografie.) 

Dieter Wenk (8-12) 

Uwe Fleckner, Der Künstler als Seismograph. Zur Gegenwart der Kunst und zur Kunst der Gegenwart, Hamburg 2012 (Philo Fine Arts, Fundus 198)

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