11. Dezember 2003

Immer wieder gern zitiert

 

So schlimm sieht es heute gar nicht aus. Im Gegenteil. Ein neues Gesamtkunstwerk ist im entstehen, und es kann sich sehen lassen, weil auf die eine oder andere Weise jeder Einzelne daran beteiligt ist. Die vernetzte Gesellschaft. Der Heilige Geist der Kommunikation schwebt über der ganzen Welt, und wo er immer noch auf verschlossene Grenzen stößt, so bestätigt sich darin nur der unaufhaltsame Drang nach universeller Kombination. Alle winken sich zu und machen auf sich aufmerksam. Natürlich gibt es Gliederungen, Gruppenbildungen, das ermöglicht Ad-hoc-Zuwendungen wie ehemals beim Gebet. Die neue Mitte ist ein Apparat, ein Mittler. Sie löst den nicht mehr nötigen Gang zur Kirche ab. Sie ist ein großartiger Übersetzer, der aus dem faktischen Babel ein immerwährendes Pfingsten macht. Hier ist alles integriert, es gibt keine autonomen Zonen mehr, jede kleinste Zelle ist bereits durchdrungen. Niemand kann mehr beiseite stehen. Auch die Kunst nicht. Sie ist der Brennpunkt des Liturgischen, insofern sie die Idee des Zeremoniellen wach hält, ohne dass man dabei an Bestimmtes denken muss. Das ist eine großartige Errungenschaft, weil sie eine uralte Haltung einnehmen kann, ohne auf Scharlatanerie verklagt werden zu müssen. Sie verspricht alles und nichts. Sie ist so klug, das im Raum stehen zu lassen. Weil sie federleicht geworden ist. Sie kümmert sich einfach nicht mehr um Fragen über echten und unechten Stil, sie macht weiter, in jeder Minute, und das lässt sich nicht so schnell einholen. Sie autorisiert sich durch ihren Namen, Kunst, und auch jeder einzelne Zugriff auf sie kann sich nur durch das versichern, was er tatsächlich sichtbar macht. Eine Transzendenz ist also von vornherein miteingebaut in das Spiel, es ist eben nur keine große mehr, sondern viele, die genauso undurchschaubar sind wie deren Vorgängerin. Was soll man auch anders machen bei 6 Milliarden potentiellen Künstlern. Die gehen halt nicht mehr alle in die alte Kirche rein. Der Bau hat sich verflüchtigt, im Prinzip ist er aber noch da, man baut jeden Tag an und ab. Ein Prozess ohne Ende. Tätigkeiten, die einfach deshalb mit der Ewigkeit verknüpft sind, weil sie immer (aber nicht so) weitergehen. Die Schöpfung hat alle eingeholt. Keiner kann mehr untätig herumstehen. Ein großer Tanz, der sich selbst aufführt, dadurch ändert und seinen Rausch dadurch aufrecht zu erhalten weiß, dass er nie richtig gelernt werden kann und sich immer woanders hin verlagert, die heutige Form der Auferstehung. Die Kunst wird allein dadurch heiter, dass alle Beteiligten zusammenkommen, auch und selbst wenn sie Ungefälliges äußern. Der Kreis, der sich da gebildet hat, ist für diese Zeit unzerstörbar, kalendarisch gesehen ist der Gang zur Kunst heilig, immer noch. Die Spiegel, in die man blickt, mögen noch so blind sein, man schaut ja nicht alleine rein. Zu jeder Krassheit kann man sich entspannt verhalten. Jedes Vielleicht-zu-wenig lässt sich bequem ergänzen. Man spendet, ist großzügig oder versagt für diesmal die Unterstützung, das ist ganz gleich. Hans Sedlmayr hat leider nicht mehr sehen können, was nach der Moderne kam. Sein Buch, seine Diagnose ist ja selbst ein „Symptom und Symbol der Zeit“, obwohl er mehr vorhatte zu leisten. Er wollte Externer sein, ein bisschen Gott spielen, der der Kunst die Gesamtaufgabe von außerhalb zuweist. Aber alle diese Unterscheidungen wie stilvoll, stillos, menschlich, unmenschlich sind von selbst abgestorben, niemand vermisst sie mehr, und trotzdem kann das Spiel weitergehen. Das Niveau bringt jeder selbst mit. Hauptsache man kann einsteigen.

 

Dieter Wenk (08.03)

 

Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte, Salzburg-Wien 1948