22. Juli 2012

Fight for your right – to...

 

Ein Jahr nach der Verabschiedung der französischen Verfassung von 1795 schreibt der Gegenrevolutionär Joseph de Maistre in seinen Betrachtungen über Frankreich: „Die Verfassung von 1795 ist wie ihre Vorgängerinnen für den Menschen gemacht. Es gibt aber nun einmal keinen Menschen auf der Welt. Ich habe in meinem Leben Franzosen, Italiener, Russen etc. gesehen; ich weiß sogar, Montesquieu sei Dank, dass man Perser sein kann: Aber was den Menschen angeht, erkläre ich, dass ich ihm noch nie begegnet bin; wenn er existiert, dann wohl ohne mein Wissen.“

 

Joseph de Maistre hat natürlich Recht: Der Mensch existiert nicht. Und doch ist diese Abstraktion nicht geschenkt. Gerade deshalb muss auf ihr insistiert werden. Menschen, das sind Männer und Frauen, unter anderen. Wie selbstverständlich wird aber in Amerika und Frankreich in den Menschen- und Bürgerrechtserklärungen Ende des 18. Jahrhunderts davon ausgegangen, dass der Mensch der Mann ist, im Französischen hat man nur ein Wort, homme, für Mensch und Mann. Es tauchen aber schon in der Zeit der französischen Revolution Frauen auf wie Olympe de Gouges, die vehement für Rechte für Frauen eintreten. Für diese „Frechheit“ hat man sie gleich einen Kopf kürzer gemacht. Die Sklaverei wurde in den USA erst nach dem Bürgerkrieg abgeschafft.

 

(Der französische Aristokrat Chateaubriand, der es 1790 aus gegebenem Anlass vorzog, seiner Heimat den Rücken zu kehren, beschreibt in seinen Erinnerungen (Mémoires d’Outre-Tombe) seine Ankunft in den USA so knapp wie kommentarlos wie folgt: „Ich gab der kleinen Afrikanerin [als Tausch] mein seidenes Taschentuch: Es war eine Sklavin, die mich im Land der Freiheit empfing.“)

 

Heute gibt es wahrscheinlich immer noch keinen Menschen auf Erden, aber die Universalisierungsdynamik in Sachen Menschenrechten ist nicht mehr umkehrbar. Das vorliegende Handbuch vermag davon in bemerkenswerter Weise Zeugnis abzulegen. Im ersten von vier Großkapiteln wird die Geschichte der Menschenrechte nachgezeichnet. Menschenrechte haben deshalb eine Geschichte, weil sie nicht (wann auch immer) verliehen worden sind, sondern erkämpft wurden. Und diese Geschichte ist noch nicht abgeschlossen. Sie wird wohl auch dann noch nicht abgeschlossen sein, wenn (was kaum zu erwarten ist) klar sein sollte, was der Mensch ist.

 

Bevor die historische Rechtsentwicklung der Menschenrechte (MR) in diesem Handbuch im engeren Sinn skizziert wird, werden zunächst „Klassische Positionen“ vorgestellt (u.a. John Locke, Thomas Paine, Johann Gottlieb Fichte), gefolgt von „Klassikern der Kritik“ (Edmund Burke, Jeremy Bentham, Hannah Arendt u.a.). Die Bentham’sche Rede von „nonsense upon stilts“ (Unsinn auf Stelzen) hinsichtlich der MR war sicherlich weniger zynisch gemeint als man ihr heute unterstellen mag: Sie machte schlicht darauf aufmerksam, dass ohne juristische Durchsetzungskraft die MR ein schöner Schein bleiben würden. Bentham beschreibt damit präzise den problematischen Kern der MR: ihr Einzugsbereich soll universal sein, aber sie müssen doch irgendwie einklagbar sein, und zu Zeiten Bentham konnte man sich das nur auf nationaler Ebene vorstellen.

 

Das 19. Jahrhundert als Jahrhundert des zunehmenden Nationalismus war in der Tat kein fruchtbares für die erfolgreiche Umsetzung der MR auf supranationaler Ebene. Erst die katastrophalen Erfahrungen der totalitären Herrschaftsformen, speziell des Nationalsozialismus, führten zu einer Forcierung des Verallgemeinerungsgedankens – bei allen kritischen Vorbehalten, die man gegenüber der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948 dann vorbrachte. Im zweiten Großkapitel stehen Begriffe, Begründungen und Systematisierungen im Vordergerund: Spätestens hier wird deutlich, dass die MR eine Erfindung des Westens sind. Im dritten Kapitel stehen die einzelnen Menschenrechte zur Diskussion: Subsistenzrechte, Freiheitsrechte, Politische Rechte u.a. Auch hier geht es erneut um den problematischen Status der MR als einklagbaren Rechten: Der Einzelne muss zunächst als Rechtsperson anerkannt sein; aber auch dann gilt: „Als moralische Rechte gelten die Menschenrechte zwar unabhängig von autoritativer Satzung und sozialer Wirksamkeit, aber es existiert kein anerkanntes Verfahren zu ihrer Erkenntnis und Durchsetzung.“

 

Das größte Vorurteil hinsichtlich der MR ist deshalb bis heute, dass sie bereits durchgesetzt seien, wohingegen sie nach wie vor nicht mehr als ein hehrer Anspruch sind, der zudem alles andere als univok ist, Stichwort Kulturalismus. Ganz folgerichtig mündet das Handbuch in seinem vierten Kapitel ein in das Feld der „Kontroversen“: Universalistischer Anspruch versus kulturalistischer Relativismus; brauchen Frauen als Frauen eigene Menschenrechte? Gibt es speziell asiatische Werte, die die Gemeinschaft vor das Individuum stellen und stärker Menschenpflichten einfordern als Rechte an Einzelne abzutreten gewillt sind? Wie steht es mit den MR in islamischen Ländern? Und zuletzt: Haben Tiere Rechte?

 

Dieses Handbuch ist sehr reich an Argumenten – für die unterschiedlichsten Positionen. Das ist gut so. Denn die Geschichte der MR ist ein Prozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist. Und am Ende weiß man, warum das so sein muss.

 

Dieter Wenk (7-12)

 

Arnold Pollmann, Georg Lohmann (Hrsg.): Menschenrechte. Ein interdisziplinäres Handbuch, Metzler 2012

 

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