22. Juli 2012

Dschungelcamp (das Original)

 

Auf Seite 12 dieses Romans ist ein Foto abgebildet, es zeigt ein großes Passagierschiff, auf dessen riesigem Schornstein ein großes C zu lesen ist. Es ist die Anna C., von der im Titel die Rede ist. Noch in den 1960er Jahren pendelte sie zwischen Europa und Südamerika, allerdings blieben die Erste-Klasse-Reisenden mehr und mehr aus, die entsprechende Flugreise war schneller und billiger. Mitte 1968 tritt ein gar nicht bunter Trupp junger Argentinier eine Reise von Genua, Italien, nach Santos, Brasilien, an, sie reisen erster Klasse, obwohl sie dafür nicht bezahlt haben. Es ist eine Rückfahrt, eine ebenso seltsame wie zwei Jahre vorher die Hinfahrt: von La Plata über Paris, Prag nach – Kuba.

 

Kuba? In den 60ern? Das sind vor allem zwei Figuren: Fidel Castro, mit seinen legendären revolutionären Ansprachen jeweils zu Beginn des Jahres, und natürlich die Leitfigur der (südamerikanischen) Revolution: Che Guevera, Arzt, früherer Präsident der kubanischen Nationalbank, Industrieminister und nachfolgender Berufsrevolutionär und bolivianischer Guerillaführer. Im Oktober 1966 trifft also eine Handvoll etwa 18-jähriger Argentinier in Kuba ein, unter ihnen Manuel und Soledad, ein Liebespaar. Wichtiger als die Liebe ist ihnen aber eines: die Revolution. Sie ersehnen nichts mehr als das „Danach“, die alten Zustände hinter sich lassen, von denen in diesem Roman aber gar nicht so viel erzählt wird. Ebenso wenig von dem, was das sein soll, dieses „Danach“.

 

In Kuba werden sie über einen Mittelsmann, El Loco (der Verrückte), in ein Ausbildungslager gebracht (über die als einer der wenigen der Insider Régis Debray geschrieben hat). Der Ausbilder, Juan Carlos, ist enttäuscht, er hatte erfahrene Guerillakämpfer erwartet (nach den Beschreibungen El Locos), eintrafen junge naive Träumer. El Loco verschwindet für eine Weile, die junge Truppe darf trotzdem beginnen: „entrenamiento“: Wie werden Bomben gebaut, wie schafft man es, im Dschungel alleine zu überleben, welche Taktiken dem Feind gegenüber (die imperialistischen Vereinigten Staaten) sind zu berücksichtigen. Die jungen Frauen werden schnell in andere Bereiche ausquartiert (nähen und pflegen), die Jungens dürfen sich als kommende Helden der Revolution beweisen.

 

Irgendwann ist es so weit: Juan Carlos verkündet den Zöglingen: „Die Revolution ruft Euch, die Revolution hat Euch gewählt, die Revolution braucht Euch.“ Die Jungen werden in Wartestellung gebracht. Sie warten zu lange. Etwas Schreckliches muss passiert sein: „Der Che war tot.“ Es geht wieder zurück ins Dschungelcamp, erneut stoßen ein paar Neue dazu. Die vergrößerte Gruppe versteht sich nicht gut. Animositäten, Verdächtigungen. Von oben inszeniert? Es kommt zum Eclat, die Gruppe wird komplett in ein Disziplinierungslager gebracht. Mittlerweile hat Soledad ein Kind zur Welt gebracht, dem sie den Namen Laura gibt. Der Vater, Manuel, kommt etwas später dazu. Und dann ist der Revolutionsurlaub auch schon wieder vorbei. Juan Carlos schickt die, die noch übrig sind, nach Hause. Auf Umwegen. Auf der Anna C. verbürgerlicht die Gruppe wieder. Erste-Klasse-Kabinen, Erste-Klasse-Essen, Spiele um Geld, Alkohol.

 

Und dann erfährt die Gruppe, eher beiläufig, wer vor langer Zeit ebenfalls immer mal wieder mit der Anna C. reiste: der Che. Als Krankenpfleger, der sich damit sein Medizinstudium verdiente. Das trifft die Gruppe wie ein Schlag: Was hat diese Information zu bedeuten? Weiß man, wer die jungen Leute sind, woher sie kommen, woran sie glauben? Ernüchterung macht sich breit. Und dann ist man auch schon in Brasilien. Und damit ist der Roman zu Ende. Roman? Die Autorin, Laura Alcoba, ist das Kind von Manuel und Soledad. Jahrzehnte nach diesem drôle de guerre schreibt sie die Geschichte ihrer Eltern (und ein bisschen ihre eigene) auf. Hat sich all das so abgespielt? Immer wieder tauchen Zweifel auf (der wenigen Zeugen), es gibt Widersprüche, aber die Geschichte en gros ist wohl so gewesen. Eine Geschichte, die, vielleicht gerade weil sie unsentimental erzählt wird, ungemein berührt. Und weil sie mehr ist als die Geschichte von zehn Leuten, von denen die meisten bald in Auseinandersetzungen mit dem argentinischen Militär getötet werden (Manuel wird bis 1980 in einem Militärgefängnis sitzen): Sie ist auch eine Parabel über die Unwägbarkeiten des „Danach“. Über die Naivität, die man als „Begeisterter“ vielleicht braucht, über die Blindheit, in die man gerät und über die Maschinerie, die die Arbeit an der Revolution selbst erzeugt.

 

Es wäre schön, wenn dieser Roman bald auf Deutsch erscheinen würde.

 

Dieter Wenk (7-12)

 

Laura Alcoba: Les passagers de l’Anna C., Roman, Paris 2012 (Gallimard)