3. Juli 2012

Zorn und Milch

 

Im Jahr 1878 stellt in Berlin der Maler Max Klinger sein Bild Spaziergänger (Der Überfall) aus. Es ist etwa doppelt so breit wie hoch und nicht sehr groß. Es zeigt eine lose Gruppe von fünf Männern vor einer roten Backsteinwand. Klinger wählt den Moment einer vermutlich bevorstehenden Aggression. Vier Männer gegen einen, der umzingelt ist und nicht fliehen kann. Wird der Bedrohte sich wehren (er hat eine Pistole)? Die Szene ist sehr beunruhigend. Die eigentliche Qualität des Bildes liegt aber in der Präsentation der Figuren, oder zumindest von zweien aus der Gruppe der Aggressoren. Die Art, wie der eine einen Stein aufhebt und der andere eine Rute in der Hand hält, ist unerhört elegant. Das Bild strömt eine Nonchalance aus, die mit der üblen Situation, von der der zweite Titel spricht, schwer zusammenzubringen ist. Das scheint der Grund zu sein, warum das Bild fasziniert. Es entfaltet sich auf zwei unterschiedlichen Ebenen, die aber nicht getrennt betrachtet werden können. Eine bevorstehende kleine Katastrophe sieht unglaublich attraktiv aus. Die „Blumen des Bösen“ haben hier eine prächtige Reinkarnation gefunden.

 

Jeff Walls Cibachrome The Goat stammt aus dem Jahr 1989 und ist mit 229x308 cm ähnlich groß wie andere Diapositive in Leuchtkästen des kanadischen Fotokünstlers. Das Bild zeigt eine eher dichte Gruppe von fünf vielleicht 12-14-jährigen Jungs, die vor einer Garage stehen, an die sich ein Lattenzaun anschließt. „Goat“ heißt im Englischen Ziege (der Junge rechts im Bild scheint eine solche zu imitieren), aber auch u.a. Sündenbock oder Zielscheibe (eines Spaßes). Das Bild ist insofern ambivalent, als der Betrachter nicht entscheiden kann, ob der zweite Junge von rechts gleich verprügelt wird (der zweite Junge von links hält eine Rute schlagbereit in der Hand), oder ob die Szene sich gleich auflösen wird, weil der Spaß darin bestand, einfach zu drohen, oder ob es dem bedrohten Jungen nicht doch gelingt, zu fliehen (er sieht am sportlichsten, am schnellsten aus).

 

Jeff Wall hat von Max Klinger die Situation übernommen, aber nicht die Haltung. Der jungen Aggressorengruppe ist die Nonchalance ausgetrieben, auch wenn sie entsprechende Gesten übernimmt (das Halten der Rute des einen, das sich Bücken eines anderen). Das Klinger’sche Gemälde fasziniert, das Wall’sche Foto ist zwar nicht weniger mehrdeutig als seine Vorlage, aber es verwirrt nicht, die Mehrdeutigkeit wird spieltheoretisch über den Ausgang der Situation verhandelt.

 

Evelyn Runge blendet in ihrer Arbeit zu Jeff Wall (und zu Sebastião Salgado) diesen kunstgeschichtlichen Aspekt, der ihr bekannt ist, bewusst aus. Das hat fatale Folgen. Und warum sollte man ignorieren, dass Wall sich selbst in der Tradition einer Malerei des modernen Lebens (noch einmal Baudelaire) sieht? Den doppelten Blick müsste eine wissenschaftliche Arbeit zumindest implizit immer haben. Der Rezipient der Wall’schen Bilder ist hier also immer nur der Rezipient des jeweiligen Fotos und nicht mehr. Und was geschieht mit diesem Rezipienten in der Runge’schen Analyse? Er wird in eine bestimmte, nicht näher begründete Position gebracht. So heißt es an einer Stelle: „Der Beobachter nimmt bei Salgado und bei Wall sehr unterschiedliche Rollen ein; dabei ist der Rezipient doch gerade derjenige, an den sich Appelle zur Handlungen (sic!) richten.“

 

Runge übernimmt hier einfach und direkt die Haltung Salgados, wonach Fotos etwas bewirken sollen (am besten, die Welt zu verbessern). Sie blendet aus, dass viele Künstler nicht appellativ arbeiten oder nicht in erster Linie. Jeff Wall wird sie mit diesem parti pris nicht gerecht. Runge schreibt zum Beispiel, Wall werfe „den Betrachter auf sich selbst zurück, auf seine Erfahrungen, auf seine Fantasie.“ Das ist eigentlich gar nicht so schlecht, sollte man meinen. Weiter heißt es: „Der Rezipient ist unbeteiligter Beobachter. Er blickt auf Panoramen, ohne seinen eigenen Platz darin zu finden.“ Wie soll das auch gehen? Mich hat Wall schließlich nicht fotografiert. Aber bin ich deshalb unbeteiligt? Etwas später heißt es verschärft: „Bei Wall bleibt der Betrachter ausgeschlossen. Die Differenz zwischen den Menschen, die sich in unterschiedlichen ästhetischen, sozialen, ethnischen etc. Sphären bewegen, überwiegt das freundliche Interesse am Mitmenschen.“

 

Natürlich kann man den Betrachter von Fotos gar nicht ausschließen, denn dann würde er die Fotos nicht sehen können. Der doppelte, kunstgeschichtlich versierte Blick Walls ist alles andere als ausschließend. Aber man werfe ihm doch bitte nicht mangelnden Aktionismus vor.  Und ist P.C. jetzt schon in der Wissenschaft angekommen? Warum sollte Jeff Wall „Handlungen in großem Maßstab“ anstoßen? Und so heißt es bei Runge in einer entwaffnenden Naivität: „Mit wem auch sollten sich Betrachter solidarisch erklären können, wenn schon seine Figuren untereinander sich fremd und fern bleiben?“ Hat man diese Frage auch schon mal Max Klinger gestellt? Jeff Wall, den die Autorin nicht zu fassen kriegt, rächt sich an den mehr als impliziten Zurechtweisungen klammheimlich durch die Einladung zur Produktion unfreiwilliger Komik auf Seiten der Autorin. Zum besseren Verständnis des folgenden Zitats sei darauf hingewiesen, dass Wall eine Fotografie gemacht hat, auf der ein Mann gezeigt wird, der eine Milchtüte so zusammenquetscht, dass die Milch aus der Tüte spritzt: „Ästhetisierung, verstanden als rein positiver Schein und als Oberflächenstruktur, trifft nur bedingt auf Walls Bilder zu, negiert dieser Begriff doch das Bedrohliche und Hässliche. Genau diese Latenz aber, das Unheimliche und Nicht-Beherrschbare, die Eruption von Zorn und Milch, ist in Walls Fotografien präsent.“

 

Dieter Wenk (6-12)

 

Evelyn Runge: Glamour des Elends. Ethik, Ästhetik und Sozialkritik bei Sebastião Salgado und Jeff Wall, Wien, Köln, Weimar 2012 (Böhlau Verlag)

 

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