5. Juni 2012

Guter schlechter Schriftsteller?

 

Pierre Drieu la Rochelle in der „Pléiade“

Eigentlich muss man schon tot sein, um mit seinem Werk in die Luxusedition der Unsterblichen des Verlags Gallimard aufgenommen zu werden. Ein paar Ausnahmen hat Gallimard sich geleistet, u.a. André Gide, Claude Lévi-Strauss, André Malraux und Nathalie Sarraute. Die letzten Zugänge, unter anderen: Virginia Woolf und Marguerite Duras. Und jetzt also, seit April 2012, der umstrittene Autor Pierre Drieu la Rochelle (1893-1945), in einem Band (also eine Auswahl), knapp 2000 Seiten, mit Romanen und Erzählungen. Warum umstritten? Davon können die hier versammelten Werke seltsamerweise gar nicht so viel erzählen, denn faschistische Romane oder Erzählungen hat Drieu nie geschrieben. Das heißt nicht, dass Drieu kein zeitgeschichtliches Erzählwerk vorgelegt hat, aber die Propaganda im engeren Sinn hat der Autor in die Essayistik und Publizistik ausgelagert (diese Strategie teilt er mit dem in Deutschland bekannteren Louis-Ferdinand Céline).

 

Titel wie Avec Doriot oder Socialisme fasciste wird man in diesem Pléiade-Band also nicht finden. Dafür aber Werke wie État civil, Blèche, Le feu follet, Rêveuse bourgeoisie und Gilles. (Rêveuse bourgeoisie ist allerdings nicht, wie neulich (22.5.12) in der FAZ zu lesen war, ein Essay-Band, sondern ein Roman). Die Kenntnis Drieus hierzulande ist vermutlich nicht sonderlich groß, sie verläuft indirekt, verschaltet über einen Film, und zwar von Louis Malle, Le feu follet, aus dem Beginn der 60er Jahre. Im Grunde aber wird dieser Autor in der deutschen Publizistik nicht verhandelt. Hätte man Grund dazu? Zeitweise war Drieu ein leidenschaftlicher Verfechter eines die vereinzelten Nationen hinter sich lassenden Gesamt-Europas.

 

Davon zeugt nicht nur das publizistische Werk Drieus, immer wieder findet man pro-europäische Einstellungen bei Romanfiguren, so bei Gille Gambier in dem 1933 erschienen Roman Drôle de voyage, den man nicht in die Pléiade-Ausgabe aufgenommen hat. Gegen Ende des Romans sagt Gille, der absurderweise für einen Bolschewiken gehalten wird, über Länder wie Frankreich, England, Deutschland und Italien: „Das sind kindische alte Damen, die, weil sie zu sterben zögern, eine große junge Frau, die ich liebe,  daran hindern zu erben, und sie heißt Europa.“ (Übersetzung von mir, D.W.) Weiter heißt es: „Der Zollbeamte, da haben Sie die lächerlichste Marionette unserer Zeit, die altmodischste, die schädlichste. Soldaten gibt es nur, weil es Zollbeamte gibt. Ich bin sicher, dass es bestimmt eine Million Zollbeamte in ganz Europa gibt. Das schönste Mädchen auf der Welt ist mit diesem Ungeziefer bedeckt. Es würde mir gefallen, ein Symbol in der Tatsache zu sehen, dass zum Beispiel Hitler der Sohn eines Zollbeamten ist. Die ganze Leidenschaft der Nationalisten in jedem Land würde mit ihren Zollgrenzen fallen.“

 

Drôle de voyage ist wie viele andere Romane Drieus auch ein Klagelied auf die Dekadenz in den Ländern Europas. Nichts lebe mehr. Das einzige, was Gille am Leben erhält, sind die Frauen, oder besser die Suche nach der Frau, die er heiraten könnte, aber diese Frau findet er nicht, kann er nicht finden, weil diese seltsame Reise, von der der Titel spricht, eine nicht endende Reise ist. Moderne Tragik? Vielleicht.  Und was ist mit den Juden, die auf den ersten Seiten des Romans eine gewisse Rolle spielen in den Gesprächen Gilles mit seinen drei Freunden, die alle, in der Terminologie der Nationalsozialisten, „Halbjuden“ sind? Nach einem Disput heißt es an einer Stelle: „,Was für eine Familie“, dachte Gille, der sich ein wenig schämte, so viel gesprochen zu haben. ,Ich werde Antisemit. Die Juden und ihre Ideologien, diese Reden, die das Leben erschöpfen’.“ Es ist das klassische intellektualistische Vorurteil, das sich hier zeigt. Gille jedenfalls zieht keine Konsequenzen aus dieser „Feststellung“. Weder kündigt er die Freundschaft auf noch lässt er die Finger von Béatrix, einer Engländerin, die ebenfalls eine „Halbjüdin“ ist. Erst am Ende zieht sich Gille zurück, aber nicht, weil Béatrix jüdische Wurzeln hat. Er wird einfach die Frau nicht finden, die er zu suchen vorgibt. Gegen Ende des Romans löst sich die jüdische Thematik von selbst auf. So heißt es an einer Stelle: „Was sind die Juden? War sie [Béatrix] eine Jüdin? Aus was würde das bestehen? Aus gar nichts.“ An einer anderen Stelle unterhalten sich Gille und sein Freund Gabriel über ihre Frauen oder Freundinnen und stellen fest: „,Nun, ich habe den gleichen Geschmack an der Kreuzung wie du, nur in umgekehrter Richtung.’ ,Ich mag meine Richtung lieber.’Sie lachen, sie waren gute Freunde.“ An keiner Stelle dieses Romans wird ein Urteil über „die Juden“ gefällt. Gille ist ein Romantiker, der alles fordert und, weil er das nicht bekommt, zynisch reagiert. Ihm ist nicht zu helfen. Die Ehe ist nichts für ihn, er wird immer solitär bleiben.

 

Und gesellschaftlich? Wird er mit den Wölfen heulen? Davon sagt zumindest dieser Roman nichts. Und der letzte? Der letzte Text, den Drieu geschrieben hat, ist Fragment geblieben und eigentlich kein Roman, sondern ein (unvollendetes) Erinnerungsbuch: Mémoires de Dirk Raspe erzählt von den fiktiven Erinnerungen Vincent van Goghs. Es ist ein Buch, 1966 zum ersten Mal in Frankreich publiziert, das man durchaus existenzialistisch nennen kann, auch wenn das Wort dort selbst nicht fällt. Man kann es auch deshalb so nennen, weil es zwischen zwei (eigentlich drei) Selbstmordversuchen Drieus entstanden ist. Erst der dritte Versuch im März 1945 gelang. Dirk Raspe ist ein armer Mann, arm auch im Sinne der Evangelien. Wenn er zu den Ärmsten der Armen geht, dann nicht als Befreiungstheologe. Er kommt eher als Pantheist. Was er bei den Armen nicht findet, vielleicht erwartet hatte: Verzweiflung. Nebenher zeichnet Raspe. Der Künstler in ihm erwacht. Und das Unterscheidungsvermögen. Zunächst unterscheidet er gute Malerei, schlechte Malerei und wertlose Malerei (bonne peinture, mauvaise peinture, peinture nulle). Etwas später lernt der Leser „gute schlechte Maler“ und „schlechte gute Maler“ kennen. Leider bricht der Roman ab, bevor der richtig gute Maler Dirk Raspe (also Vincent) porträtiert wird.

 

Aber vielleicht hatte Drieu nicht mehr die Kraft, dieses Porträt zu vollenden. Das ist schade. Immerhin hatte Drieu in van Gogh nichts weniger als einen Vorläufer Hitlers (!) gesehen, in einem Artikel aus dem Jahr 1939 für das argentinische Blatt La Nación, Buenos Aires,  liest man: « … ce peintre violent et désespéré me paraît l’un des précurseurs d’Hitler ». Bemerkenswert auch Drieus Vermutung, warum die Faschisten und Kommunisten Bilder von Malern wie Picasso und van Gogh abhängten, nämlich weil sie ihnen zu ähnlich waren und sie in ihnen den ganzen « konvulsivischen Charakter » (Hervorhebung Drieus) einer Epoche sahen, den sie im Falle eines Sieges gern vergessen würden.

 

Ist Pierre Drieu la Rochelle ein guter Schriftsteller?  Vielleicht nicht, was das Gesamtwerk angeht, aber es gibt Das Irrlicht, es gibt die Erzählungen La Comédie de Charleroi, wie überhaupt die in Frankreich weniger als in Deutschland geschätzte Gattung « Erzählung » in Drieu einen interessanten Vertreter hat. Mit dieser Pléiade-Ausgabe blickt Drieu ein wenig in den verlegerischen Himmel, aber er steht mit beiden Füßen in der Hölle.

 

Dieter Wenk (6-12)

 

Pierre Drieu la Rochelle, Romans, récits, nouvelles, Paris 2012 (Gallimard)