10. Dezember 2003

Grüße nach Darmstadt

 

Über Darmstadt macht man sich schon über 50 Jahre lustig. Damals aber mit vermutlich weniger Recht. Der Krieg war erst kurz vorbei, die Niederlage, die kaputten Städte, und vor allem Auschwitz und die vielen toten Juden. Und dann doch natürlich das volle Recht auf Franz Lehár, die Lehre der „Giuditta“, „Freunde, das Leben ist lebenswert“. Ablenkung und Konzentration. Konzentration auf etwas anderes durch Ablenkung. Der Schlaf der Gesellschaft. Das gute Gewissen durch Vergessen. Und daneben und zugleich die Nischen, die sich auf eben dies Phänomen beziehen, um es mit den Mitteln einer auch schon historisch gewordenen Musik zu denunzieren. Sich nicht gemein machen. Unerhört klingen. Auf die Knie. Spannt eure Ohren auf. Der Musikpriester. Der wahre Weg. Der einzige. Alles andere ein Schein, eine Lüge. Dagegen das Feiern des Stigmas. Haltet die Wunde offen. „Nur was nicht aufhört wehzutun, bleibt im Gedächtnis.“ Lacht nicht so blöd. Das Geräusch und das Schweigen. Einzige Weisen der Reaktion. Unsere Musik klingt zwar ziemlich beschissen, aber die Welt ist es ja auch. Worüber sich natürlich streiten ließe, siehe Lehár und Freunde.

Baricco stellt die These auf, dass die Neue Musik ein fundamentaler Irrtum gewesen ist. Man hätte diesen Weg nicht beschreiten dürfen. Das klingt ein bisschen so, wie heute über das Verbot des Klonens gesprochen wird. Ganz oder gar nicht. Außerdem ist man hinterher immer schlauer. Die Dinge wetzen sich sowieso von alleine ab. Wen interessiert wirklich noch die Neue Musik? Eben. Aber man soll die Leute, die darauf noch abfahren, halt machen lassen. Tut ja nicht weh. Muss ja niemand in den Konzertsaal. Man dreht das Radio weiter. Die ganze Palette zählt, nicht nur die Trümpfe Mahler und Puccini, die Baricco ins Spiel bringt als zwar prekäre, aber immerhin doch Lösungen.

Aber das damalige Problem kann man nur verstehen mit allem, was da war, einschließlich des so genannten Irrtums. Alles, was das erste Mal das Licht der Welt erblickt, kann kein Irrtum sein, sondern genießt Existenzrecht, und sei es als abstoßendes Beispiel. Es ist gut, möglichst viel im Ohr zu haben. Nicht nur Philip Glass. Wie schnell zerbricht das. Aber diese leichte Musik hat von Altlasten befreit, die nicht mehr allein in der Musik gesteckt haben. Das war Theologie und Theokratie. Wenn sich Neue Musik von diesen Bezügen löst, hat sie als bloßer Klang vielleicht wieder eine Chance, und sei es nur als winziges Detail, als Sample im Rahmen eines Tracks, der allen Weihrauch abgelegt hat und freigegeben ist zum Genuss, ohne Dünkel und Gebet. Dann könnte man sich auch der Neuen Musik von einer anderen Seite nähern, die einem zeigt, dass sie viel mit Mathematik, Kürzungen, Serien, Verschiebungen und allen möglichen Manipulationen zu tun hat und dass ein vielleicht ohne diese Kenntnisse albern klingendes Stück in die Richtung weist, aus welcher einst Philosophie komponiert wurde und deren prominentestes Stück wohl Spinozas Ethik ist, ein auf den ersten Blick und auch auf den zweiten unzugängliches Werk, das aber auch mit Abteilungen noch heute bestechen kann, die einem sagen, dass Begeisterung eine der ersten Tugenden ist und dass Traurigkeit nichts ist, dem man noch zusätzlich Platz einräumen darf. Wer so was Ernst nimmt, weiß, welche Musik er hören möchte.

 

Dieter Wenk

 

Alessandro Baricco, Hegels Seele oder die Kühe von Wisconsin. Nachdenken über Musik, München 1999 (Piper, Mailand 1992)