21. März 2012

Einnehmen ohne Einvernehmen

 

Alexis Jenni: L’art français de la guerre

Was ist das für ein „seltsamer“ zwanzigjähriger Krieg, den Frankreich in der Mitte des 20. Jahrhunderts führt? Hat das, was die Franzosen „drôle de guerre“ nennen, nicht nur vier Jahre gedauert? 1940-1944? Schon vor dem Algerienkrieg geht es jedoch weiter, der Kolonialkrieg in Indochina endet erst 1954 mit der Niederlage der Franzosen bei Diên Biên Phu. Und worin besteht die französische Art des Krieges? Alexis Jennis Roman schöpft nicht aus seinen Erinnerungen als Kriegsveteran. Dafür ist er zu jung. Aber auch seinen Ich-Erzähler schickt er nicht in den Krieg. Der im engeren Sinn romaneske Teil dieses Romans speist sich aus den in Form gebrachten Erinnerungen eines Mannes, den der Ich-Erzähler kennenlernt. Der Ältere, ein gewisser Victorien Salagnon, erzählt dem Jüngeren sein Leben als Krieger. Im Gegenzug lehrt ihn der ehemalige Soldat die Kunst des Malens, genauer gesagt des Tuschezeichnens.

 

 Die aus der Sicht Salagnons geschilderten kriegerischen Ereignisse sind wie eine Intarsienarbeit in die vom Erzähler „Kommentare“ genannten Abschnitte eingelegt, die den auch reflektierenden Hintergrund der kriegerischen Ereignisse liefern. Die „Roman I-VI“ genannten Kapitel bieten puren Krieg, so wie man das aus den einschlägigen Filmen kennt. Kontaktaufnahme mit dem Feind, Verwischen von Spuren, Gefechte, der lädierte Körper im modernen Krieg, Kameradschaft, Helden und Verräter, seltsame Freundschaften. Diese ganz traditionell erzählten Partien verzichten ganz auf strategische Analysen von Kampfeinsätzen. Victorien Salagnon hätte diese im Moment des Kämpfens auch gar nicht anstellen können.

 

Um so drängender stellt sich für den Leser die Frage, was diese Soldaten da eigentlich machen (das gilt vor allem für die Teile des Romans, die in Indochina und Algerien spielen). Was sich zunächst wie ein verspäteter Abenteuerroman liest, hat unversehens mehr zu tun mit dem absurden Theater eines Beckett. Die reflektierenden Teile werden dann ja auch in den Kommentaren nachgeliefert, in den langen Gesprächen zwischen dem Ich-Erzähler, Salagnon und dessen Freund Mariani, der Salagnon in Indochina das Leben rettete, aber anders als Salagnon nicht über die Kunst die finsteren Erfahrungen des Krieges abfedern kann. Für Mariani geht der Krieg weiter, der Kolonialkrieg wird zurückgeführt in das Mutterland; das „Wir“ und das „Sie“ erscheint erneut und hat nicht nötig, nationale Grenzen zu überschreiten. Mariani ist ein Rassist. Warum ist er dann überhaupt mit Mariani befreundet, fragt sich und Salagnon der Ich-Erzähler. Das habe mehr mit der Vergangenheit als mit der Gegenwart zu tun, immerhin habe Mariania ihm, Salagnon, das Leben gerettet, indem er sein eigenes aufs Spiel setzte.

 

Aber vielleicht ist da noch etwas anderes. In den Kommentaren wird der Rassist als Typus gefasst, der es nur mit Ähnlichkeiten hat. Alles Unähnliche gilt als fremd. Hier also: Frankreich den Franzosen. Der Deutsche kennt die Parole „Ausländer raus“. Jenni muss also  versuchen, dieses Prinzip der Ähnlichkeit auf möglichst allen Ebenen zu zerschlagen. Von daher wohl der abrupte Wechsel von Kommentar zu Roman zu Kommentar usw. Das heißt aber auch, dass der Rassist nicht bei sich bleiben darf. Wie unbelehrbar er auch sein mag, er muss gewissermaßen im Belagerungszustand leben. Und zwar belagert von seinen „eigenen“ Leuten, also indigenen Franzosen. Die Botschaft Jennis ist so einfach wie klar: Man muss mit den Rechten leben, ob man will oder nicht. Das ist kein Spaß, aber es gibt keine Alternative, es sei denn die Rechten lösten sich von alleine auf, was für die nächste Zukunft eher unwahrscheinlich ist. Für diese anstehende Kriegsführung des miteinander Lebens gibt es noch keine Kunst.

 

„Die französische Art des Krieges“ ist auch ein Liebesroman, oder besser zwei. Die Liebe, so wie sie hier gezeigt wird, ist eine gelungene Enklave, sehr überhöht, zueinander passende Fundstücke aus Platos Gastmahl.

 

Dieses Buch hat vergangenes Jahr eine wichtige französische Jury überzeugt. Alexis Jenni ist Goncourt-Preisträger des Jahres 2011.

 

Dieter Wenk (02-12)

 

Alexis Jenni, L’art français de la guerre. Roman, Paris 2011 (Gallimard)