1. März 2012

Winterfrische

 

„Ich will hier raus!“ Wer will das nicht als Jugendlicher, wenn er oder sie nicht gerade in New York oder Berlin (nicht unbedingt Marzahn) lebt. Nicht jeder junge Mann will aber sofort zur Fremdenlegion wie der damals noch minderjährige Ernst Jünger. Und wo zieht es die jungen Damen hin? Vielleicht doch gleich in die Glamour-Medien-Welt? Die aus Süddeutschland stammende Elisabeth „Lisa“ Kerz, deren Aufzeichnungen wir in Export A lesen, landet im arktischen Kanada. Und der Winter steht erst noch bevor. Aber sie ist nicht ganz alleine. Als Minderjährige braucht sie eine Bezugsperson. Das ist ihre ältere Schwester, die dort bereits wohnt, verheiratet. Aber die beiden könnten gegensätzlicher nicht sein. Lisa flieht ihr reiches, bequemes Elternhaus, ihre Schwester setzt dieses grundsätzlich fort, nur eben an einem anderen Ort. Sonntags geht es in die Kirche. Lisa kommt anfangs mit. Noch ist Lisa nicht cool genug, die Brachialfantasien des Höllenrhetorikers einfach so an sich abprallen zu lassen. Aber ihr neues soziales Umfeld, eine kleine Bande abhängender Jungs, wird sie wunschgemäß umpolen. Alkohol, Drogen, Musik. Immer seltener die Schule. Ein Traum im eisigen Kanada?

Die Aufzeichnungen sind nicht dazu angetan, dass der Leser oder die Leserin es sich bequem machen können. Eine junge Frau flieht. Sie weiß, was sie los werden will. Aber vielleicht nicht so genau, was sie sucht. Auf die Dauer richtet sich ein emotionaler Pendelverkehr ein, geschildert wird eine aufmerksame Glücksan“Werther“in, die nicht so sehr an einer unmöglichen Beziehung zu Grunde geht, als dass sie mit der Untragik eines „Unfalls“ klarkommen muss. Am Ende jedenfalls steht gewissermaßen „Export B“, die Austauschschülerin fliegt zurück ins Heimatland. Die Sprache, ohne speziell oder outriert zu sein, ist vielleicht nicht jedermanns Sache. Es ist, als ob mit der Flucht nur der Ort gewechselt wäre, aber das Milieu als sprachliche Anhänglichkeit mitgezogen wäre. Das mag auch Absicht sein, der Erkenntnis geschuldet, nicht von Null auf neu anfangen zu können, aber hin und wieder blickt der Leser mit den Augen eines Oberlehers auf das kanadische Umfeld und erkaltet seinerseits. Diese Aufzeichnungen kommen nicht locker daher, dafür drängt sich die Schleifspur des Prägestempels „Gute Literatur“ zu sehr auf. Das ist ein bisschen schade. Die geschilderte Verwahrlosung hat sprachlich einfach kein Äquivalent. Die Playlist ist zwar nett, hilft aber auch nicht viel weiter.

Trotzdem, der Anfang ist klasse, er sei deshalb zitiert: „Die Mendenhall Subdivision liegt ca. 120 km nördlich von Whitehorse. Wer die Gegend nicht kennt, wird die Ausfahrt verpassen, weiter dem Alaska Highway folgen und nach Norden treiben, vielleicht bis Old Crow.“ To be continued.

Dieter Wenk (2-12)

 

Lisa Kränzler, Export A. Roman, Berlin 2012 (Verbrecher Verlag)

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