9. Dezember 2003

Das Knistern im Kirchengebälk

 

Solange es die Katholische Kirche geben wird, solange wird es auch Verbrechen wie die des Paters Amaro geben, die Verbrechen gegen die Sexualität sind. Das gibt diesem Roman immer noch eine gewisse Daseinsberechtigung (Erstveröffentlichung 1876), einen Schock wie damals wird man damit nicht mehr erreichen, im Gegenteil. Für heutige Verhältnisse ist dieses Buch viel zu dick, und dafür, dass es über 500 Seiten hat, fängt es vergleichsweise wenig Realität ein. Die durch die freie indirekte Rede erzeugte Ironie verfängt heute nicht mehr, es gibt hier nichts mehr zu entdecken. Der Klerus ist diskreditiert, sein Aufgabengebiet ist sehr bescheiden geworden, die Skandale sind mal klein, mal groß, je nachdem, ein wie großer Fisch Scheiße gebaut hat, und man betrachtet dieses Gesellschaftssegment mit dem klaren Bewusstsein, dass diese Unzeitgemäßheit an Anachronismus immer nur noch zulegen kann, sodass man sich damit nicht mehr beschäftigen muss. Die Kirche als Selbstabschaffungsprogramm.

Davon allerdings gibt dieser Roman eine ausführliche und unbestechliche Probe. Sie ist die andere Seite der Prädestinationslehre, nach deren Wendung schlimme Dinge geschehen müssen: Im Zwiegespräch mit einem Pfarrer sagt der Polizeiarzt mit einem unbestechlichen Blick auf die totalisierenden Einbettungsleistungen der katholischen Kirche und die besonderen Erniedrigungen und Entbehrungen der Geistlichkeit: „Einen Pater vorbereiten heißt ein Monstrum schaffen, das sein elendes Leben in verzweifeltem Kampf gegen die beiden unwiderstehlichen Fakta der Weltordnung verbringt: die Gewalt der Materie und die Gewalt der Vernunft!“ Dass der Arzt selbst auch noch eins auf den Deckel kriegt, wird er doch von der umtriebigen Geburtshelferin indirekt des Mordes an Amélia, der weiblichen Heldin, bezichtigt, da er sich bei auftretenden Nachgeburtsproblemen falsch verhalten habe, heißt nur, dass die Vernunft auch eine Gewalt ist, wie die Kirche, und ein dogmatischer Gebrauch lebensgefährlich.

Im letzten Kapitel wird man damit konfrontiert, allerdings aus der Perspektive des Klerus und der politischen Führungskaste: In Paris geht das Volk auf die Barrikaden, die Berichte sprechen von Zerstörungen, der Liberalismus wird auf ein paar Dutzend Störenfriede reduziert, man riecht Anarchie und preist das idyllische Portugal, wo noch alles seinen Weg geht, was der erzählerische Blick dann jedoch natürlich nicht bestätigen kann, vielmehr liegen die Dinge auch hier vorrevolutionär. Zugleich hat der Erzähler durchaus Sympathie mit seinen priesterlichen Figuren und deren Sympathisanten, immerhin gibt es so was wie Salons, wenn auch spirituell durchtrainiert, aber sie schaffen immerhin Möglichkeiten des Zusammenkommens, wenn diese Begegnungen auch verboten sind.

Aber genau dieser Spagat ist ja Thema: Der berechtigte begehrende Blick des Pfarrers, der zugleich verboten ist. Was das ergibt, sind Ungeheuer, Lügen, Doppelmoralen und – uneheliche Kinder. Amaro, der priesterliche Held, das muss man ihm lassen, ist ziemlich cool. Er kommt schnell über die Anfangsirritationen dieser generellen Unmöglichkeit seines Berufes hinweg und arrangiert sich. Schnell vergisst er seine Geliebte und er hat schon sein zweites Gesuch eingereicht, erneut in eine größere Stadt einzuziehen, diesmal gleich Lissabon. Sicher wird er großen Erfolg haben, das Sicherheitsnetz wird dort um vieles größer sein, aber auch die Gelegenheiten, der Materie Genüge zu tun. Bevor die Materialisten endgültig zuschlagen.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=1>José Maria Eça de Queiroz, Das Verbrechen des Paters Amaro. Roman</typohead>