5. Februar 2012

Das Attentat

 

Dieses Buch ist mutig. Schon der zum unaussprechlichen Akronym verkürzte Titel macht dies deutlich. Hinter der Abkürzung „HHhH“ verbirgt sich ein Ausspruch Hermann Görings: „Himmlers Hirn heißt Heydrich“ – dieses Buch könnte es in sich haben. Laurent Binet will mit seinem ersten Roman jedoch nicht die Geschichte dieses „Hirns“ erzählen, also eine literarische Biografie Reinhard Heydrichs, Leiter des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) und stellvertretender Reichsprotektor von Böhmen und Mähren. Nein, Heydrich ist für Binet nicht Protagonist, sondern Teil des „Bühnenbildes“ für eine andere Erzählung. Im Mittelpunkt des Romans steht das unter dem kryptischen Codewort „Operation Anthropoid“ geplante Attentat auf Heydrich am 27. Mai 1942 in Prag. Um ein Haar wäre dieses gescheitert und die beiden nun als Helden gefeierten Attentäter Jozef Gabcík und Jan Kubiš für immer vergessen worden. Doch es kam anders, das Attentat glückte und nun spielen sie in Binets Erzählung die Hauptrollen und werden vom Autor voller Verehrung in Szene gesetzt. Heydrich wurde in diesem Drama vom Akteur zum Statisten degradiert, obgleich Binet immer wieder versucht, auch in Heydrichs Psyche einzutauchen. Trotz all seiner inszenatorischen Brillanz, zerreißenden Spannung und literarischen Finesse hat Binets Drama einen doppelten Boden: Es ist nicht erfunden.

 

„Damit etwas ins allgemeine Gedächtnis übergeht, muss es zunächst in Literatur verwandelt werden.“ Ziemlich genau in der Mitte seines Romans kommentiert Laurent Binet seine eigene Arbeit scheinbar beiläufig mit diesem so zentralen Satz. Doch mit dem „allgemeinen“ oder auch „kollektiven Gedächtnis“ – wie es der Soziologe Maurice Halbwachs am Vorabend des Zweiten Weltkriegs nannte – ist es in Frankreich so eine Sache. Mit Unbehagen schaut die Grand Nation auch heute noch auf die Kriegszeit zurück, die nicht nur das Signum der Niederlage und Unterdrückung, sondern auch das der Kollaboration trägt. In den letzten Jahren wagten sich in Frankreich jedoch einige junge Autoren an diese Themen und schilderten sie teils sehr provokant in semi-fiktionalen Romanen. Sowohl Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“ (2006) als auch Yannick Haenels „Jan Karski“ (2009) wurden kontrovers diskutiert, ohne direkt vom Kollaborationstrauma zu handeln. Es scheint, als sei diese Wunde in Frankreich jedoch noch nicht verheilt, und so reflektiert auch Binet in einigen Passagen seines Romans über das französische Kollektiv-Gedächtnis. Allerdings entscheidet er sich in seiner Erzählung dafür, die Erinnerung an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus ins Zentrum zu stellen. Er will erinnern und die beiden Widerstandskämpfer für das „allgemeine Gedächtnis“ retten. In gewisser Weise hat dies in Frankreich Tradition: Auch der Résistance-Kämpfer Jean Moulin wurde erst durch die ikonische Totenrede André Malraux’ unsterblich. In jedem Fall weiß Binet, dass er mit seinem Buch eine Auswahl trifft, die notwendigerweise nicht alle Perspektiven beleuchtet. Er schreibt: „Meine Geschichte ist durchlöchert wie ein Roman ...“ und doch ist „HHhH“ auch ein Bericht über das Gewesene – Binet hat seine Figuren nicht einfach erfunden, sondern in jahrelanger Arbeit recherchiert und rekonstruiert.  

 

Kann der Widerstand als Heldenepos erzählt werden? Immer wieder gerät Binet ins Grübeln über das, was es zu berichten, und das, was es zu verschweigen gilt. Auch in der Erzählstruktur spiegeln sich die Skrupel des Autors vor der Fiktionalisierung der Geschichte. „Die Menschen, die in dieser Geschichte eine Rolle gespielt haben, sind schließlich keine Romanfiguren; und sollten sie es durch meine Schuld geworden sein, möchte ich sie zumindest nicht so behandeln.“ Fast manisch unterbricht Binet seine Erzählung über Heydrich, Gabcík und Kubiš unzählige Male, um seine Herangehensweise zu reflektieren und zu erklären. So wechseln die meist weniger als zwei Seiten langen Kapitel zwischen Heydrichs Aufstieg im NS-Regime, der Vorbereitung des Attentats und den Selbstbetrachtungen des Autors. Mit geradezu überschwänglichem Gestus macht sich der Autor in Anbetracht seines Stoffes selbst klein und hadert mit sich und der Art und Weise der Darstellung. Der Leser wird in diesem Rollenspiel zum stummen Dialogpartner Binets – oder vielmehr zu einer Art Mitverschwörer. Was auf den ersten Blick unbeholfen erscheint, verleiht „HHhH“ jedoch seine Einzigartigkeit: In der Metareflexion über den Umgang mit der Vergangenheit nimmt Binet den Diskurs des „allgemeinen Gedächtnisses“ auf und kommentiert diesen mit seiner eigenen Erfahrung. Indem er die Ereignisse um das Attentat auf Heydrich konsequent aktualisiert und die beiden Widerständler als Vorbilder aufbaut, verweist er auf die zentralen Momente des Gedächtnisses: Erinnerung ist stets subjektiv, folgt den eigenen Bedürfnissen und ist in höchstem Maße auf die Gegenwart bezogen. 

 

„HHhH“ ist nicht nur ein Buch über das Heydrich-Attentat, sondern vor allem über die Erinnerung daran. Die Lebensgeschichte Reinhard Heydrichs kann in zahllosen Biografien nachgelesen werden. Auch die Geschichte des Attentats vom 27. Mai 1942 hat ihren Weg in die Geschichtsbücher gefunden. Binets Roman vermag hierzu aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive keine neuen Erkenntnisse zu liefern. Aber es trägt dazu bei, dass dieses Ereignis „ins allgemeine Gedächtnis übergeht“! Behutsam sucht der Autor den Quellen ein menschliches Gesicht zu geben und den Leser an seinen Empfindungen beim Schreiben teilhaben zu lassen. Durch die Verknüpfung mit seiner eigenen Biografie macht Binet die Ereignisse gegenwärtig und verdeutlicht ihre erinnerungskulturelle Bedeutung.

Selten wurde mit dem schwierigen Unterfangen einer literarischen Annäherung an die  Geschichtsschreibung so differenziert und gleichzeitig so gefühlvoll umgegangen. Ohne den Respekt vor der Thematik zu verlieren, schreibt Binet eine – auch spannend erzählte – Geschichte von Mut und Widerstand, aber auch der eigenen Suche nach Identifikation. In der deutschen Sprache hat der Begriff Geschichte eine eigenartige Doppelbedeutung: Er bezeichnet die Vergangenheit, aber auch die Erzählung davon – in Binets Roman beginnen diese beiden Bedeutungsinhalte zu verschmelzen. 

 

Patrick Kilian

 

Laurent Binet – HHhH (Himmlers Hirn heißt Heydrich), Roman, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2011, 448 Seiten,  19,95 Euro, ISBN: 978-3-498-00668-6

 

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