24. Januar 2012

Im Vorzimmer eines Chefs

 

Auch er war in Dachau. Aber er kam als Besucher, eingeladen von den Deutschen. Das Lager ging in Ordnung. Auch später, Anfang 1945, als die Welt etwas mehr erfuhr von diesen fürchterlichen Stätten, findet man kein spätes Erwachen seitens Drieu la Rochelles, der sich Mitte März 1945, nach zwei erfolglosen Selbstmordversuchen im August 1944, das Leben nahm. Er war nicht dabei, als das Vichy-Regime Ende 1944 nach Sigmaringen ausquartiert wurde. Vermutlich wollte er nicht fliehen. Möglichkeiten hätte es gegeben. Die ersten Kollaborateure wurden Ende 1944 hingerichtet. Nicht alle mussten mit dem Tod rechnen, aber wer wusste schon, was die anderen über einen wussten. Der Schriftsteller Robert Brasillach wurde im Februar 1945 erschossen, er war Chefredakteur der heftig antisemitischen Zeitschrift Je suis partout. Die höhnische „Umbenennung“ folgte auf den Fuß: Je suis parti.

 

Drieu la Rochelle schrieb nicht ganz so apokalyptisch gegen die Juden wie der Arzt und Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline, aber er bekannte sich zu dieser Haltung. Eine Figur hatte ihn am Ende seines Lebens besonders interessiert, die des Judas, die des Verräters. Als Kollaborateur und bekennender Freund Hitler-Deutschlands war er natürlich in den Augen vieler Franzosen selbst einer. Am Ende hatte Deutschland seine geschichtliche Mission verraten, nämlich ein neues Europa zu schaffen. Einige Jahre zuvor sah dieser europäische Gedanke bei Drieu und einigen anderen noch ein wenig anders aus. Man wollte aus der Geschichte lernen und ein pazifistisch geeinigtes Europa schaffen. Drieu la Rochelle hatte selber den Ersten Weltkrieg als Soldat unter anderem in Verdun erfahren, er wusste, wovon er sprach. Man findet bei ihm aber auch anderes Gedankengut, früh ist er begeisterter Nietzsche-Leser, die Figur des „Chefs“ fasziniert ihn. Ein Stück gleichen Namens (Le Chef) ist 1944 im besetzten Paris veröffentlicht worden. Gespielt wurde aber nicht dieses Stück, sondern (u.a.) Sartres Huis Clos, das Drieu literarisch ablehnte.

 

Zu dieser Zeit (1944) war Drieu bereits nicht mehr Chef, und zwar der ehemals renommierten NRF (Nouvelle Revue Française), die als einzige Zeitschrift im besetzten Teil Frankreichs autorisiert worden war. Im Jahr 1909 von André Gide und anderen gegründet, ging aus der Zeitschrift ein ganzes Verlagshaus hervor, nämlich Gallimard. Unter deutscher Zensur und unter Drieu kam die NRF in den Augen vieler ehemaliger Mitarbeiter auf den Hund. Sie wurde politisch, parteiisch, die Katharsis nach dem Krieg nahm zehn Jahre in Anspruch. Eigenartigerweise sind die meisten Helden in Drieus Romanen und Erzählungen keine Chefs. Die meisten sind das, was man „délicat“ nennen kann, hoch reflektiert, psychologisch eingesponnen, ästhetisch versiert. Eines der Lieblingsgemälde des Autors: Watteaus Gilles, bis heute den Betrachter auf Distanz haltend. Die Distanz zu den Dingen und den gesellschaftlichen Ereignissen, die sich Pierre Drieu la Rochelle einmal in seinem Tagebuch als grundsätzliche Haltung anempfohlen hatte, um wie ein „Leuchtturm“ über den Dingen zu stehen und gleichzeitig orientierendes Licht nach vorne abgeben zu können, hat er selbst nicht durchhalten können und vielleicht auch nicht wollen.

 

Spätestens 1934 ist er und nennt er sich „Faschist“ – eine Publikation aus diesem Jahr (bei Gallimard!) trägt den eigenartigen Titel Socialisme fasciste. In Deutschland ist er willkommener Gast, er war sich nicht zu schade, 1941 und 1942 nach Weimar zu den propagandistisch verwursteten Schriftstellerkongressen zu reisen, damit dort eine Art Gegen-PEN etabliert werde. Er arbeitet, mit Unterbrechung, mit Doriots faschistischer Partei PPF zusammen und publiziert, erneut bei Gallimard, eine Aufsatzsammlung Avec Doriot (1937). Jahre zuvor war der gleiche Doriot entschiedener Kommunist. Céline sagte man ebenfalls kommunistische Sympathien nach, bevor er rassistisch durchdrehte. Das sind Dinge, die auch heute noch irritieren. Mit Drieu könnte man sagen: Hauptsache totalitär, egal ob von rechts oder links, Anfang 1945 wechselte seine politische Sympathie erneut die Seite: lieber rot als liberal oder schwächlich-demokratisch. Aber dazu kam es bei ihm persönlich ja nicht mehr. Drieus Gesetz der gesellschaftlichen Entwicklung war zuletzt das Recht des Stärkeren. Seine raffinierte und perfide Selbstreinigung ging darauf, das konkrete gesellschaftliche Umfeld nur als vorübergehende Verkörperung von fatalen Kräften zu begreifen, die einander ablösen. Das hätte er natürlich keinem politischen Tribunal schmackhaft machen können. Anders gesagt: Man hätte den Zyniker bestätigt gesehen.

 

Drieus (allerdings nicht erster) Biograf Jacques Cantier lässt an einer Stelle seines Buches einfließen, dass man sich seit einiger Zeit Gedanken darüber macht, den Schriftsteller zu pléiadisieren: Pléiade, das ist die Dünndruck-Luxusausgabe im Hause Gallimard. Erst kürzlich wurde diese Ehre Marguerite Duras zu Teil. Man darf gespannt sein, welchen Drieu die Herausgeber präsentieren werden, denn das Beispiel Céline zeigte, dass die Hassschriften außen vor blieben. Literarische Texte kann man auch heute noch mit Gewinn lesen, etwa Feu follet (Das Irrlicht), dreißig Jahre später von Louis Malle verfilmt. Mehr vielleicht die Erzählungen als die manchmal psychologisch überfrachteten Romane. Die literarischen Texte spielen in Cantiers Biografie allerdings keine sehr große Rolle. Aber man bekommt ein ganz gutes Gefühl dafür, wie wenig hilfreich zu schnell Urteile (Aburteilungen) sind.

 

Dieter Wenk (11-11)

 

Jacques Cantier, Pierre Drieu la Rochelle, Paris 2011 (Perrin)

 

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