9. Dezember 2003

Senecas Brut

 

Schon merkwürdig, dass die Tragödie nicht „Nero“ hieß, denn der titelgebende junge Mann war erst 14, als er sterben musste, und zu diesem Zeitpunkt (55 n. Ch.) war er bereits als Thronfolger entmachtet, durch Intrigen der umtriebigen Agrippina, Neros Mutter, Witwe Claudius’, des Vaters von Britannicus. Aber es geht bei Racine ja vor allem um passion, um die Liebe, Ekstase und Verzweiflung, und da wird man bei Britannicus’ Stiefbruder nicht fündig werden. Er sagt zwar, dass er sich in Junia, die Versprochene des Britannicus, verliebt hat, aber Burrus, der Tutor Neros, macht ihm ziemlich schnell klar, dass man nur da liebt, wo man lieben will, und Nero findet tatsächlich sehr schnell den Knopf, um seine Befindlichkeit auf Vor-der-Verliebtheit zu stellen. Außerdem ist Nero, man kennt es aus dem schönen Film mit Peter Ustinov, ein bisschen pervers, der sich unendlich darüber freuen kann, anderen etwas wegzunehmen. Du hast etwas weniger (und sei es das Leben), also bin ich.

Nero ist ein Emporkömmling, den man klassisch nennen könnte, wenn er nicht selber ein wenig das Modell mitgestaltet hätte. Seine Mutter hat für ihn gekämpft wie eine Löwin, sie machte den Weg frei, in dem Moment, wo er sie nicht mehr braucht, ist sie sauer, weil sie sieht, was für eine Brut die beiden Erzieher Burrus und Seneca, der weise Philosoph, da herangezüchtet haben, aber schließlich ist jeder nur für sich selbst verantwortlich. Nero ist also auf dem besten Weg zur Alleinherrschaft, einflussreiche Leute schickt er in die Wüste (Pallas), bereits kalt gestellte macht er kalt (Britannicus), er setzt sich in gemachte Betten (Junia, aber das klappt dann nicht) und er verstößt ehemalige Weggefährten und Helfer (die Mutter).

Nero wäre aber nicht Nero, wenn es nicht jemanden gäbe, der ihn erst dazu macht, der die Konsequenz in seine polymorphe Veranlagung hineinbringt, und das sind nicht seine beiden Erzieher, sondern ironischerweise der Erzieher des Britannicus mit dem sprechenden Namen Narzissus. Je nachdem mit wem Nero gerade redet, vorausgesetzt die Gabe der Rede und der Überzeugungskraft ist einigermaßen verankert, plärrt Nero das nach, was ihm gerade eingegeben wurde. Er ist beeinflussbar, von seiner Mutter, von Burrus, der ein bisschen Theaterspiel in die pure Ratio hineinbringt, und von Narzissus, der bösen Schlange, der ihm die gute Seite, die auch in ihm steckt, sofort wieder madig macht. Man muss nur ein bisschen auf Paranoia setzen, und schon ist der beste Vorsatz beim Teufel. So auch hier. Das Gespräch zwischen Nero und Narzissus muss Racine erst gar nicht bringen, es wäre zuwenig Antagonismus dabei, und die Für und Wieder sind besser aufgehoben in den Artikulationen der Nero entgegenstehenden Personen. Burrus ist erschüttert, es war doch schon alles erreicht, was ist da geschehen, aber das Furchtbarste bei der Vergiftung war, so Burrus, dass Nero keine Miene verzog. Und das ist ja wirklich schlimm, wenn etwas keinen Unterschied mehr macht, die dämonische Grundlage der Willkür. Hier hört auch jedes Gespräch auf, da eine Gegenstimme nicht von Belang ist.

Und das macht aus Nero doch eine schrecklichere Gestalt als Narzissus, der nur widerlich ist, aber nicht gemein. Man merkt da noch die Abstoßungen, wo etwas herkommt, wo es hingehen soll. Das verliert sich bei Nero, er ist ein Füllbecken, aber man weiß nicht, was dabei herauskommt. Insofern sind seine Disputationen reine Simulakren, hinter denen ein garstiges Kind steht, das zu lange bei Göttern gewohnt hat.

 

Dieter Wenk

 

Racine, Britannicus (Übersetzung: Simon Werle)