17. Januar 2012

Scheibchenweise Dunkelmänner

 

Seit 1966, also einer knappen Jahrhunderthälfte, liegt André Bretons legendäre Anthologie des Schwarzen Humors in ihrer definitiven, weil für abgeschlossen erklärten Form vor. Allerdings gebührt Rogner & Bernhard das Verdienst, dieses Buch wieder herausgebracht zu haben, denn die deutschsprachige Ausgabe war lange Jahre vergriffen. Die französischsprachige Erstausgabe datiert von 1940. Der Schwarze Humor hatte jedoch in den ersten fünf Jahren kaum Gelegenheit, sich auszubreiten, da die Vichy-Regierung, die mit Nazi-Deutschland kollaborierte, das Buch noch im selben Jahr verbot. Eine „Nationale Revolution“ ließ sich mit dieser Anthologie nicht anstiften. Erst 1945 und 1947 erschienen die nächsten, erweiterten Ausgaben.

 

Der Surrealismus hatte 1940 schon 16 Jahre auf dem Buckel, André Bretons Inaugural-Manifest des Surrealismus war 1924 erschienen. Keine Frage, dass in der (chronologisch verfahrenden) Anthologie der als inoffizieller Gründungsvater des Surrealismus geltende Isidore Ducasse, besser bekannt unter dem Namen Lautréamont, nicht fehlen durfte, mit Ausschnitten aus den Gesängen des Maldoror. Den Anfang der Anthologie bestreitet jedoch Jonathan Swift: „Alles weist auf ihn als den wahren Initiator des schwarzen Humors hin“, so der Herausgeber Breton in seinem einführenden Text zu dem irischen Satiriker.

 

Unter dem Etikett Schwarzer Humor versammelt Breton sehr unterschiedliche Autoren. Gleich nach Swift darf der legendäre D.A.F. de Sade seine Aufwartung machen, um wiederum von Georg Christoph Lichtenberg abgelöst zu werden. Poe fehlt ebenso wenig wie Baudelaire. Lewis Carrol ist mit seiner „Hummer-Quadrille“ aus Alice im Wunderland vertreten, Friedrich Nietzsche schreibt einen irren Brief an Jacob Burckhardt und der ansonsten sehr liebenswürdige Alphonse Allais, Wegbereiter der abstrakten Kunst, zeigt sich hier einmal von seiner dunklen Seite. Für den Surrealismus vielleicht ebenso bedeutend wie der Comte de Lautréamont: André Gide, Erfinder des acte gratuit; er ist vertreten mit einer Albernheit, die man bei ihm sonst nicht vermutet. Was man auf keinen Fall verpassen darf, einen wunderbaren Ausschnitt aus John Millington Synges Theaterstück Der Held der westlichen Welt, von dem George Moore sagte, es sei „das bedeutendste Stück der letzten zweihundert Jahre“. Weitere Repräsentanten „Schwarzen Humors“: Picasso, Kafka, Jakob von Hoddis (allerdings nicht mit seinem bekanntesten Gedicht), Duchamp, Dalí und viele andere, deren Namen man vielleicht hier zum ersten Mal lesen wird.

 

Natürlich, die Wirklichkeit ist nach 1940 nicht unbedingt heller geworden, und so mag das eine oder andere ausgewählte Stück beinah schon wieder abgeschmackt wirken. Aber in ihrer geballten Form ist diese Anthologie doch ein beachtliches Gegenstück. Die Anthologie des Schwarzen Humors gibt es übrigens nur bei Zweitausendeins (www.zweitausendeins.de).

 

Dieter Wenk (01-12)

 

André Breton, Anthologie des Schwarzen Humors, Berlin 2012 (Rogner & Bernhard)

 

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